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Solidarität statt Selbstbetrug

Der Fraktionssprecher der Grünen im Bundestag fordert zur Finanzierung der Einheit: 1%ige Beitragserhöhung der Sozialversicherung für alle und scala mobile  ■ D O K U M E N T A T I O N

Wir leben in bewegten Zeiten. Ökologie, Demokratie und Frieden sind die Herausforderungen, auf die zuerst Antworten gefunden werden müssen. Trotzdem werden wir durch das von Kohl vorgegebene Tempo der Vereinigung gezwungen, noch schneller auch zu sozialen Fragen Position zu beziehen.

An unsere westliche Konsumkultur, vor allem an den konsumgewöhnten Bürger hier bei uns stellt sich aber auch die Frage der Solidarität mit den Menschen in der DDR beim Neuanfang. Es ist sicher richtig, daß die Kapitalseite riesige Summen in der DDR investieren wird. Aber wenn die Linke und die Gewerkschaften glauben, sie können sich aus der Affäre ziehen, ohne daß die Bürger der BRD (natürlich sind Bürger mit geringem Einkommen nicht gemeint) in ihre Taschen fassen, dann ist das Selbstbetrug. Die Linie Lafontaines und der SPD ist in dieser Frage doppelzüngig: dort wortreiche teure Versprechungen - hier bei uns soll es nichts kosten, sollen sogar die Sozialbeiträge gesenkt werden. In der DDR hat Lafontaine auf diese Weise hohe Erwartungen erzeugt - hier fördert er Sozialneid und Entsolidarisierung. Daß der Einigungsprozeß nichts kosten soll, das kann doch wohl nicht stimmen. Wenn jetzt keine Solidarität organisiert wird, dann wird die DDR unser „mezzo -giorno“.

Wir wissen alle, mit dem Staatsvertrag wird die Neugründung praktisch vollzogen. Wenn die Einheit ein Neuanfang werden soll, muß mehr als nur die finanziell billigste und formal eiligste Lösung gesucht werden. Es muß einen neuen Solidarpakt der Menschen hier und drüben geben. Aber solch ein Pakt wird solange nicht möglich sein, wie in der Politik niemand die Wahrheit darüber sagt, was in der DDR wirklich nötig ist und was wir hier bezahlen müssen und wollen. Diese Frage erörtere ich jetzt am Beispiel der Zukunft der Renten hier und in der DDR: In der DDR gab es schon immer eine Mindestrente, gestaffelt nach Arbeitsjahren. Diese Rente war in der Regel dicht am Sozialhilfeniveau. Niemand ist verhungert, aber ein menschenwürdiges Altenleben war das wohl nicht. Diese Zumutungen erschienen weniger ungerecht, weil die Spanne zwischen Mindest- und Höchstsatz bei den Renten nur gering war (330 bis 480 Mark). Höhere Renten gab es nur für die Intelligenz, die NVA, die Parteifunktionäre und natürlich den Stasi. In der DDR wurden Sozialabgaben (10 Prozent vom Einkommen) einbehalten, aber diese Mittel waren nicht zweckgebunden. Alle sozialen Leistungen wurden damit und mit zusätzlichen Geldern aus den öffentlichen Haushalten finanziert. Die DDR ist bekanntlich pleite. Bis der Generationenvertrag als Grundlage des neuen Rentensystems mit in der DDR selbst erwirtschafteten Beiträgen wirksam werden kann, muß die Bundesrepublik, müssen die Menschen hier bei uns zahlen. Ob sie wollen oder nicht. Das nennt Blüm verschleiernd Anschubfinanzierung.

Der Weg, den die Bundesregierung mit Billigung der SPD einschlägt, überträgt unser Beitrags- und lohnbezogenes Rentensystem in die DDR. Er überträgt damit auch die spezifischen Ungerechtigkeiten, vor allem die Altersarmut nach drüben. Nicht nur das: weil das Preisniveau in der alten DDR sich sehr schnell an unseres angleichen wird, die Löhne aber noch längere Zeit Billiglöhne bleiben, werden die DDR-Alten die größte Last zu tragen haben.

Es wird ihnen noch lange ganz einfach viel schlechter gehen als ihren AltersgenossInnen hier bei uns in der Bundesrepublik. Ich schlage vor: Der Zusammenschluß mit der DDR macht es notwendig, den unbefriedigenden Rentenkompromiß von Blüm und Dressler rückgängig zu machen und für die neue Deutsche Republik einen strukturellen Neuanfang in der Rentenpolitik zu wagen. Das Prinzip Mindestrente in der DDR sollte beibehalten und bei uns eingeführt werden. Für die Höhe dieser Mindestrente soll gelten: Es reicht nicht, daß die Alten gerade genug zum Leben haben, zum Mitleben mit uns allen brauchen sie etwas mehr. Kein Rentner soll gezwungen sein, zum Sozialamt zu gehen. Die Kosten für diesen Neuanfang betrachte ich als offen auszuhandelnden Preis der Solidarität der Menschen hier mit den Alten in der DDR. Die Reserven der Rentenversicherung (zur Zeit circa 26 Milliarden) dürfen nicht angetastet werden. Die sollen als Reserven unsere wie auch die zukünftige gesamtdeutsche Rentenversicherung liquide halten. Außerdem schafft der Zugriff auf diese Reserven nur Enteignungs-Ressentiments und mobilisiert Widerstände dort, wo Solidarität gefragt ist.

Da ich aber nicht schon wieder den altbekannten Song Lieber Renten statt Raketen anstimmen will, sehe ich nur einen Weg, auch finanzielle Solidarität einzufordern: sofortiger Finanzausgleich zwischen Rentenversicherungsträgern hier und drüben und zur besseren Finanzierung eine einprozentige allgemeine Beitragserhöhung für eine Übergangszeit ist das Minimum, wenn eine aufzubauende Arbeitnehmersolidarität kein leeres Wort bleiben soll. Der Gesamtbetrag wird direkt an die zu gründenden Rentenkassen in der DDR überwiesen. Alle Nichtbeitragspflichtigen werden für den gleichen Zeitraum mit einer entsprechenden Ergänzungsabgabe belastet. Dazu noch eine Maßnahme: Für die bevorstehenden sozialen und wirtschaftlichen Turbulenzen in der DDR ist die gesetzlich festgelegte Anpassung der Renten viel zu unflexibe. Die Preise werden sich sehr schnell erhöhen, besonders die Grundnahrungsmittel werden wegen wegfallender Subventionen schnell viel zu teuer für viele Alte werden. Ich schlage für die Übergangszeit einen automatischen Anpassungsmechanismus der Renten an Löhne und Preise in sehr kurzen Abständen vor.

Meine „scala mobile“ für die Renten würde sicherstellen, daß nicht die Alten und die Schwachen nur deswegen, weil sie sich weniger wehren können, besonders ungerecht bezahlen müssen für die Wirren des Übergangs in die neue Deutsche Republik. Für den zu erwartenden Massenanstieg von Arbeitslosen sind ähnliche Überlegungen am Platze.

Willi Hoss, MdB

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