: „Heute hatten wir hier Nahkampfstimmung“
Die Einwohner des Moskauer Umlands sind vom Einkauf ausgeschlossen - werden sie sich revanchieren? / Reformpläne der Zentrale unter dem Beschuß der demokratischen Moskauer Ökonomen / Alte und neue Methoden „na lewo“ ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
„Wir verstehen ja alles“, lautet eine der Überschriften in der Moskauer Lokalpresse dieser Tage. Und tatsächlich, daß ein Übergang zur Marktwirtschaft notwendig ist, daran zweifelt in der ganzen Sowjetunion wohl nur noch eine Handvoll Funktionäre, aber, wie ein besorgter Arbeiter in einem Leserbrief meint: „Doch nicht so grob!“ Nachdem Ende letzter Woche die Käufer putzeimer- und säckeweise mehrere Monatsvorräte von Speiseöl, Haferflocken und Graupen aus den Geschäften nach Hause schleppten, sehen die meisten Moskauer auch ein, daß diese Waren auf Beschluß des Stadtsowjets nur noch an polizeilich gemeldete Bürger gegen Vorzeigen des Passes und nur noch kontingentiert abgegeben werden. „Heute Morgen hatten wir hier Nahkampfatmosphäre, wir konnten die Auswärtigen nur mit Hilfe der Polizei zurückschlagen“, vermeldet mir die Kassiererin im benachbarten „Gastronom“. Und weil ich den Laden gerade recht friedlich finde, verweist sie ins Innere: „Nur noch leere Drahtkörbe - um nichts wird nicht viel Lärm gemacht.“
Wie sollen sich die Beziehungen zwischen Stadt und Land und zwischen den einzelnen Sowjetrepubliken künftig entwickeln? Neben der Zukunft der sozial Schwachen verursacht diese Frage die meiste Ratlosigkeit. „Wenn ich mit meinen kleinen Kindern aufs Dorf in die Sommerfrische fahre, wird man uns dort wenigstens Brot oder Milch verkaufen?“ fragt eine junge Frau in der „Moskowskij Komsomoljez“.
„Wir sind wie ein Volk, daß nach dem Marsch durch die Wüste einen großen Fluß erreicht hat und weiß, daß am anderen Ufer die Rettung liegt, nicht aber, wie es aber hinüberkommen soll“, sagte einer der Abgeordneten während der laufenden Debatte im Obersten Sowjet. Der Wirtschaftswissenschaftler Gawrijl Popow vertritt als Vorsitzender des Stadtsowjet von Moskau die starke Fraktion „Block Demokratisches Rußland“. Für ihn ist das Ryschkow-Programm ein politischer Angriff auf die Stadt. Es ist ihm unverständlich, daß der Ministerpräsident ausgerechnet das Moment der Preissteigerung in den Mittelpunkt des Übergangs zur Marktwirtschaft gestellt hat. Daß diese Preissteigerungen auch noch staatlich reglementiert werden sollen, kritisieren Fachleute ebenso wie Privatleute. Der oppositionell gestimmte Delegierte Pawel Bunitsch konstatiert in der 'Iswestija‘: „Wo ist denn da der Fortschritt, wenn jetzt vierzehn statt, wie bisher, neun Prozent der Lebensmittelpreise freigegeben werden und zwanzig statt fünfzehn Prozent der Preise für Produktionsmittel? Sie wollen die Reform mit den gleichen administrativen Mitteln durchführen, wie früher.“ Daß das Reformprojekt sich in einem Teufelskreis bewegt, weiß allerdings auch der wirtschaftspolitische Sprecher des „Blocks Demokratisches Rußland“, Gennadij Filschin: „Ohne Zwang wird es nicht gehen, denn das administrative Kommandosystem verfügt leider über keine eingebauten Mechanismen zu seiner Selbstabschaffung.“
Neben Bunitsch kam diese Woche auch der Ökonom Otto Lazis mit einem großen Beitrag in der 'Iswestija‘ zu Wort. Die beiden Ökonomen meinen, daß der mögliche Vorteil des Überganges zur Marktwirtschaft bisher unzureichend ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt worden sei: nämlich daß sich in kürzester Zeit die Regale mit Waren füllen könnten und daß somit die nervenaufreibende und demütigende Jagd der Sowjetbürger nach dem Notwendigsten ein Ende finden könnte. Diese Erleichterung werde aber gerade dadurch gefährdet, daß Ryschkow sein Programm lähmend langatmig verwirklichen will. So meint Bunitsch: „In zehn bis fünfzehn Jahren sollen 60 Prozent der Unternehmen aus dem staatlichen Sektor herausgeführt werden. Unser Volk erwartet aber in ein bis zwei Jahren Resultate.“ In einem Punkt unterstützt Lazis allerdings die Reglementierung: bei dem höheren Brotpreis. Das Verhältnis der Sowjetbürger zum Brot, beschieb Gorbatschow in seiner letzten Fernsehrede mit stockender Stimme: „Die Kinder spielen auf dem Schulhof Fußball damit ... und so mancher verfüttert es an die Tiere.“ Die Devisenmilliarden, die die Regierung für Getreideimporte ausgibt, könnten tatsächlich auf eine wesentlich kleinere Summe schrumpfen, wenn der absurde Zustand aufhörte, daß Brot hierzulande billiger ist als Korn.
Daß sich kaum jemand eine Fortschritt von den Wirtschaftsmaßnahmen erhofft, liegt nicht zuletzt am mangelnden Vertrauen der Bevölkerung zur Führung des Landes. Niemand glaubt im Ernst, daß, wie Ministerpräsident Ryschkow es beschwor, alle gleichermaßen zurückstecken müssen. Die Wirtschaftsreform solange zu diskutieren, bis man ihr durch ein Referndum die entsprechende Legitimierung sichern kann, ist das Gebot der Stunde. Gorbatschow sprach lediglich von einer „Erörterung durch das ganze Volk“. Immerhin ist jetzt klar, daß der Oberste Sowjet Ryschkows Pläne so nicht verabschiedet hat, die meisten Deputierten erblickten in ihnen lediglich grobe Richtlinien.
Während einige Moskauer inzwischen schon mit der neuen Form der Krise spekulieren, warten andere bereits auf deren nächste Gestalt. In der Innenstadt verhökern Hauptstädter Waren, die sie nicht mehr brauchen oder die ihnen nicht mehr gefallen, zu Wucherpreisen an Zugereiste. Und Mütter mit einem Kind an der Hand müssen an den Kassen jetzt die Geburtsurkunde vorweisen, weil die lieben Kleinen sich schon vor den Läden als Begleitung verdingen.
Alle Komissionen des Moskauer Stadtsowjet haben jetzt ihre Arbeit liegen lassen, um sich am Brainstorming für ein Verteilungssystem zu beteiligen, das auch das Umland berücksichtigt. Darauf setzt meine Nachbarin. Sie hat seit fünf Tagen keinen staatlichen Laden betreten, lebt von Vorräten und kauft nur weniges für horrende Preise auf dem freien Kolchosmarkt oder bei den Kooperativen ein. Ihr Argument: „Was ist, wenn ich im Geschäft meinen Paß verliere oder ein Auswärtiger ihn mir klaut?“ Die Folgen für sie wären in diesem Lande wirklich unausdenkbar.
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