: Mit der Situation einfach überfordert
■ Nächtlicher Überfall von Skinheads auf das Multinationale Kulturzentrum „Tacheles“ bringt Polizei in Schwierigkeiten/ Rechtsradikale sind zentral organisiert / Zweiter Angriff schlug fehl / Beobachtungen in der Ostberliner Polizeizentrale
Ost-Berlin. Die Stimme am anderen Ende der Leitung überschlägt sich fast: Überfall von Skinheads auf das in der Ruine des ehemaligen Hauses der Technik existierende „Multinationale Kulturzentrum Tacheles“ in der Oranienburger Straße. Die Uhr zeigt ein Uhr fünf.
Routinemäßig schickt der Diensthabende Offizier zwei Einsatzwagen an den Ort des Geschehens - der Bericht, den die Besatzungen an die Inspektion geben, übertrifft alle Befürchtungen. Von 150 bis 200 Skinheads ist die Rede, ein Eingreifen der vier Beamten ist schlechterdings unmöglich. Der Diensthabende beordert sämtliche Stadtbezirk vorhandenen Polizeikräfte in die Oranienburger Straße, gleichzeitig bittet er die Inspektionen Friedrichshain und Prenzlauer Berg um Hilfe. Die ständig durchgegebenen Meldungen der vor Ort anwesenden Polzisten schildern die Lage in dramatischen Farben. So wird dem Diensthabenden bald klar, daß die Möglichkeiten der Volkspolizei-Inspektion bei weitem nicht ausreichen - er verständigt über eine Direktleitung das ebenfalls im Gebäudekomplex Keibelstraße untergebrachte Präsidium.
Als der diensthabende „Offizier des Hauses“ (OdH), Polizeioberrat Opahle, den Hörer abnimmt, ist es bereits ein Uhr fünfundzwanzig. Später wird er sagen: „Diese zwanzig Minuten sind nicht mehr aufzuholen gewesen.“ Doch er macht seinen Kollegen keinen Vorwurf - sie waren mit der Einschätzung der Situation einfach überfordert.
Opahle fordert über die bereits georderten Einsatzkräfte hinaus Hilfe aus Treptow an. Als die noch immer vor Ort ausharrenden vier Polizisten endlich Verstärkung erhalten, haben die Rechtsradikalen längst den geordneten Rückzug angetreten. Trotzdem gelingen den siebzig im Einsatz befindlichen Beamten einigen Festnahmen. Gegen vier der Gewalttäter werden Ermittlungsverfahren eingeleitet, der Untersuchungsrichter ordnet U-Haft an.
Das Pokalendspiel
Oberrat Tarnowski sah dem Pokalendspiel mit gemischten Gefühlen entgegen. Die Ereignisse der letzten Nacht scheinen seinen Verdacht zu erhärten - es ist mit Ausschreitungen im großen Stil zu rechnen. Die U-Bahnhöfe werden ebenso abgesichert wie die Zufahrtsstraßen. Ständiger Kontakt über Funk hält die Einsatzzentrale im Stadion auf dem laufenden. Nach Schluß des Spiels kann Tarnowski aufatmen: Von zwei Zuführungen abgesehen - keine besonderen Vorkommnisse. Selbst die unmittelbar hintereinander abfahrenden Züge der Fans von Dresden und Schwerin hat zu keinerlei „Verwicklungen“ geführt.
Die „andere Zentrale“ bemerkt die Panne
Eigentlich sollte es wie immer laufen. Doch die Rechnung geht nicht auf - die schon bald nach dem Spiel abfahrenden Züge üben auf die Dredener und die Schweriner Fans eine größere Anziehungskraft aus als „Sieg Heil“ und Stimmungsmache. Was also tun? Die quer über den Alex verstreute „Reserve“ ist zahlenmäßig nicht groß genug, um irgendeine Aktion zu starten. Kurzfristig ausgebener Befehl: Treffpunkt Lichtenberg.
Überfall Nr. 2 scheitert
Gegen achtzehn Uhr dreißig fällt Streifenpolizisten eine Bewegung von Skinheadgruppen von Lichtenberg nach Friedrichshain auf. Sie ziehen über die Boxhagener Straße zum Wismarplatz - dort teilen sie sich in zwei Gruppen auf. Ziel: die besetzten Häuser der Mainzer Straße. Dort werden sie von einem Einsatzkomando der Polizei bereits erwartet. Über Megaphon werden sie aufgeordert, ihre „Waffen“ niederzulegen und sich friedlich zu verhalten. Die Antwort: Steinwürfe, Gewalt. Die Polizei löst die Ansammlung auf. Es gibt 30 „Zuführungen“ - gegen drei der Gewalttäter wird Haftbefehl erlassen. Der „provisorisch“ organisierte Überfall ist gescheitert.
O. Anders
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