: „Du lebst und tust mir nichts“
■ Anmerkungen zur Renaissance Aby Warburgs
Vor genau hundert Jahren, 1890, wurden die Sioux am Wounded Knee vernichtend geschlagen. Diese letzte Niederlage machte die Ureinwohner Amerikas stärker als je zuvor zum Forschungsfeld sympathisierender Ethnologen, die fieberhaft zumindest dokumentarisch festzuhalten versuchten, was dem Untergang geweiht war. Unfreiwillig und ohne daß es ihnen bewußt gewesen wäre, haben die Völkerkundler damit auch das Verständnis der europäischen Renaissancekultur beeinflußt. Als Vermittler wirkte Aby Warburg (1866-1929), Sproß der hamburgischen, jüdischen Bankiersfamilie, der als erstes Familienmitglied die Bankkarriere ausschlug und als Begründer der modernen Bildanalyse wie auch als Schöpfer der heute in London beheimateten Warburg-Bibliothek schon zu Lebzeiten einen legendären Ruf gewann.
Auf Warburg müssen die ethnologischen Forschungen, dies hat kürzlich Ulrich Raulff im Nachwort zu Warburgs Schlangenritual glänzend beschrieben, elektrisierend gewirkt haben, und schon 1895 begab er sich, abgestoßen von der „Leere der Zivilisation im östlichen Amerika“, zu den Pueblo-Indianern Neumexikos, um das Schlangenritual der Eingeborenen zu studieren. Bei ihnen schien die Grundlage des Zivilisationsmenschen noch im Ursprung bewahrt: Die Umwandlung von Dämonenfurcht in symbolisches Denken. Wenn zum Beispiel die Schlange nicht mehr als leibhaftige Todesmacht, sondern als Symbol des Blitzes erfahren wurde, konnte ihr der Mensch nun in beschwörender und selbstbewußter Weise gegenübertreten. Die Todesmacht war als Bild und Symbol von Menschen entfernt worden, und in der sich öffnenden Distanz gelangte die Freiheit des „Denkraumes“ zum Durchbruch.
In Warburgs Sicht war in der Renaissance ein durchaus vergleichbarer Prozeß „ästhetischer Entgiftung“ abgelaufen. 1890, als die Sioux geschlagen wurden, arbeitete er in Florenz an seiner Dissertation über die Venusbilder Botticellis. Er setzte an scheinbar unwichtigen Formen, den fliegenden Gewändern und wehenden Haaren an, da er diese Gebilde nicht als Ornamente betrachtete, sondern als Mittel psychischer Angstbewältigung. In diesen flatternden Detailformen erkannte er gemalte Außenentladungen übermächtiger Angst- und Gewaltschübe, die im Bild auf die Ebene denkender Betrachtung und Bewältigung gehoben worden waren: „Pathosformeln“, wie er sie später nannte, die sich einen „Denkraum“ erobern. Ein ähnlicher Prozeß war im distanzierenden Schlangenritual der Indianer zu beobachten, „wildes“ und „rationales“ Denken war für Warbung aufgehoben.
Schon dieses Beispiel mag zeigen, welche unerhörte Assoziationsleistung ihm zur Verfügung stand. Er hat zu Lebzeiten nur wenig geschrieben, aber was insgesamt überliefert ist, setzt ihn in die Nähe der Zeitgenossen Einstein und Freud. Die Kenntnis über sein Werk hat seiner Berühmtehit aber selten entsprochen, und daher seien Aspekte seiner historischen Geltung, aber auch seiner aktuellen Bedeutung skizziert.
Daß Warburgs Reise zu den Pueblo-Indianern durch die Ethnologie inspiriert ist und daß sie im Primitivismus der zeitgenössischen Kunst eine Parellele findet, ist offenkundig. Nicht weniger evident erscheint seine Nähe zur Psychoanalyse. Carlo Ginzburg hat schon 1979 beschrieben, inwieweit Freuds Psychoanalyse von der modernen kunstgeschichtlichen Methodik inspiriert ist, und bei niemandem scheint der Vergleich daher angebrachter als bei Warburg. Mit seiner von außen und von den Nebenmotiven sich nähernden Methode ist die Tiefenpsychologie insofern verwandt, als sie zum Kern des Individuums über all das, was nicht vordergründig kontrolliert ist, zu gelangen sucht: unbewußte Bewegungen, sprachliche Entgleisungen und Träume.
Für Freud wie Warburg ist dem Individuum täglich die Aufgabe gestellt, sich distanzierend aus der Gefahr zu befreien, die eigenen Triebkräfte umstandslos auf die Umwelt zu projizieren und somit auf magische oder neurotische Weise das Ich mit der Welt zu verwechseln. Mit einem darwinistisch geprägten Evolutionismus hat dieser Aufstieg von der Magie zur Ratio insofern nichts gemein, als er als ein unablässig neu einzulösender Prozeß gesehen wird, der jederzeit in der Gefahr steht, umgekehrt zu werden. Warburgs seit seiner Dissertation verfolgte Konzentration auf die Apper?us, Begleiterscheinungen, Gebärden, Tänze und Feste und sein Drang, Programme aufzudecken, sprachliche Vormuster für die Bilder zu finden und das kulturelle und ökonomische Umfeld bis in die Buchhaltungsverfahren der Auftraggeber zu entschlüsseln, hat unter dieser Vorraussetzung auch selbstanalytische Züge. Wie stark Warburg bewußt war, daß Angst und Angstbewältigung die Energie seiner Auseinandersetzung mit Bildern speiste, verdeutlicht sein über die Fragmente einer „Psychologie der Kunst“ gesetzter Spruch: „Du lebst und tust mir nichts.“ Er pirscht sich an das Objekt seiner Forscherlust von der Seite her, auf Schleichwegen heran, wie um es in seinen bislang unbeobachteten Momenten zu überraschen. Gegen jene auratische Bildmacht, die das Kunsterlebnis mit den Schockwirkungen religiöser Art verbindet, setzt sein analytisches Denken mit List und Anstrengung die Distanz des „Denkraumes“.
Warburg war als einer der tiefgründigsten Denker seiner Zeit auch besonders gefährdet. Bereits zermürbt durch die Erschütterungen des Ersten Weltkriegs, kamen seinen eigenen Worten zufolge jene dämonischen Kräfte, mit denen er sich zeitlebens beschäftigt hatte, über ihn. Für mehrere Jahre durchlebte er im Sanatorium des berühmten, mit Freud in ständigem Briefwechsel stehenden Psychiaters Ludwig Binswanger (1881-1966) seine „Kreuzlinger Passion“. Ist seinem Biographen Carl Georg Heise Glauben zu schenken, so hat sich Warburg im wesentlichen selbst therapiert. Um zu testen, ob seine Krankheit überwunden sei, kam er dort 1923 in einem Vortrag auf jene frühe Reise zu den Pueblo -Indianern zurück. Selbstironisch als „gräuliche Zuckung eines enthaupteten Frosches“ abgetan, bezeugte diese in nur wenigen Wochen fertiggestellte Arbeit seine Wiedergesundung und den Eintritt in eine überlegene Gelassenheit, die sein Dasein bis an das Lebensende prägen sollte. Es verdeutlicht die Komplexität von Warburgs Existenz, daß er in seiner Geltung als Gelehrter in die Nähe zu Freud zu rücken ist und zugleich sein Patient hätte sein können. Er präsentiert jenen mehrschichtig gebrochenen Typus des Analytikers, der gzwungen ist, in sich selbst den analytischen Verstand vom Objekt der Analyse zu trennen. Warburg war ein unbestechlicher Philologe und ein Fanatiker der Detailgenauigkeit, zugleich aber auch voller Widerstände gegen jede Form von, wie er es nannte, „grenzpolizeilicher Befangenheit“. Er wurde zum Kunsthistoriker, Ethnologen, Religionswissenschaftler, Psychoanalytiker und Sozialhistoriker zugleich, und seine assoziativ zersplitternde, frei sich bewegende Denkform nähert sich, wie mehrfach betont worden ist, der Kunstform der Collage und des Dada. Als ein den Fachgrenzen spottendes Vorgehen bleibt sein Werk ein Stachel für die Wissenschaftshermetik, und in letzter Konsequenz ist es weniger der Geistes- als vielmehr der Humanwissenschaft zuzurechnen.
Warburg verstand die Methode seiner Bildanalyse als ein Modell der Selbstentfesselung aus den eigenen Seelenfängen. Dieses Denken in der Gefahrenzone, das beständige Aushalten und Überwinden extremer Denkanstrengungen und Spannungen hat manche Zeitgenossen, aber auch spätere Rezipienten bei aller Hochschätzung auch befremdet. Das Unverständnis und wohl auch die Abneigung, auf die Warburgs beständiger Kampf um den „Denkraum“ bisweilen traf, mag zu dem befremdlichen Umstand beigetragen haben, daß er unter den großen Denkern dieses Jahrhunderts vermutlich der am schlechtesten dokumentierte ist. Publiziert wurden allein die schon zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften. Von den ursprünglich beabsichtigen zusätzlichen Teilen der Gesammelten Schriften hat keine das Licht der Welt erblickt; weder der Bilderatlas „Mnemosyne“ noch die Vorträge, kleineren Abhandlungen, Fragmente, Aufzeichnungen, Aphorismen, die autobiographischen Skizzen und Briefe noch, abschließend, der Katalog seiner Bibliothek, deren Gliederung die Denkprozesse ihres Schöpfers bewahrte und die in dieser persönlich besetzten Qualität als Vorbild für Jorge L.Borges „Bibliothek von Babel“ gelten kann. Die Vertreibung der Bibliothek nach London im Jahre 1933 hat gerade in Hinsicht auf die Editionsvorhaben einschneidend gewirkt. 1966 schrieb Dieter Wuttke anläßlich des 100.Geburtstages Aby Warburgs zu recht: „Nur in bedauerlicher Verzögerung und auf leidvollsten Umwegen und dann auch nur teilweise läßt sich in der Kulturarbeit Ausgleich schaffen, wenn Barbarei den günstigen Augenblick einmal gestört hat.“
Zur Überwindung dieser Situation haben seither eine Fülle von Publikationen und Ausstellungen beigetragen, und inzwischen mehren sich die Anzeichen, daß ein neuer „günstiger Augenblick“ gekommen ist. Durch Ulrich Raulffs Edition von Warburgs „Schlangenritual“ wurde 1988 erstmals ein in deutscher Sprache bislang unpublizierter Text veröffentlicht. Warburgs im Hamburger Planetarium wiedergefundene Tafeln zur Geschichte von Sternenglauben und Sternkunde werden im Dölling und Galitz Verlag, der kürzlich die Lebenserinnerungen von Ingrid Warburg Spinelli vorgelegt hat, zur Publikation vorbereitet. Kurt W.Foster vom Getty Center in Santa Monica bereitet dem Skandalon ein Ende, daß eine englische Ausgabe der Schriften bislang nicht vorliegt. Michael Diers hat kürzlich die Transkription von 2.200 in den „Kopierbüchern“ bewahrten Briefen Warburgs fertiggestellt und erarbeitet jetzt einen Kommentar als Grundlage einer Publikation; Dieter Wuttke bereitet eine Briefausgabe des „Schülers“ Erwin Panofsky vor. Die Stadt Hamburg ehrt Warburg durch den jeweils vierjährig vergebenen Warburg-Preis. Seitens der Universität aber verdichten sich Überlegungen, in der Heimatstadt Warburgs eine Aby-Warburg -Forscherprofessur sowie ein Forschungsinstitut zu stiften, das seine methodischen Impulse auch produktiv nutzt, und als ein hoffnungsvolles Zeichen mag gelten, daß Wissenschaftssenator Ingo von Münch ein am 11./12.Juni stattfindendes Warburg-Symposion angeregt hat.
Daß Warburgs weit gefaßte „Ikonologie“ gerade in jüngster Zeit auf ein vielerorts spürbares, durch zahlreiche Publikationen dokumentiertes neu erwachtes Interesse gestoßen ist, hat vermutlich zu tun mit dem universalen Aufstieg jener Macht des Bildes, vor der Warburg zu schaudern nie aufhörte, der er aber zutraute, ein Hauptträger der Selbsterziehung sein zu können. Wenn heute weltweit vom Ende des Schriftzeitalters gesprochen und wenn die universale, digital kodierte Sintflut an Bildern teils Enthusiasmus, teils aber auch Befürchtungen über ein mögliches Ende jedweder Wirklichkeitsorientierung und reflexiver Freiheit auslöst, dann bleiben diese Reaktionen ohne das durch Warburg erzeugte Instrumentarium stumpf. Als Schrift und Bild umfassende Methode scheint seine Ikonographie in der Lage, selbst das Zerreißen dieses traditionellen Zusammenhanges plausibel, das heißt geschichtlich zu erklären, und dies macht die Ikonographie Warburgscher Prägung geradezu zur Methode der Stunden, die vorrangig in der Lage ist, sich der Macht der Bilder zu stellen. Daß die rumänische Revolution durch die Einnahme der Fernsehstation und damit durch die Verfügung über die Bilder verwirklicht wurde, bekräftigt nachträglich die These, daß der Vietnamkrieg von amerikanischer Seite auch im Frühstücksfernsehen verloren wurde. Wenn andererseits rumänische Demonstranten Ceausescu-Bilder auf dieselbe Weise attackieren, wie im neunten Jahrhundert byzantinische Ikonoglasten die Christusikonen vernichteten, macht dies nochmals deutlich, daß sich die gegenwärtige Brisanz der Bilder nicht erklären läßt ohne die historischen Tiefenschichten des Bildes und der Formen des Umgangs mit dem Bild.
Auch politisch hochsensibel, hat Warburg unter dem Eindruck der Propaganda des Ersten Weltkriegs die Analyse des Bildmediums als Mittel der Massenagitation begründet - durch eine Arbeit über die Bilpropaganda in der Reformationszeit. Diese Fähigkeit, Geschichte und Gegenwart im Doppelspiegel zu betrachten, macht seine Form der Ikonologie zu einem weitaus abgründigeren Analyseinstrument, als es die theoretischen Entwürfe von Jean Baudrillard, Marshall McLuhan und selbst noch Walter Benjamin, der Warburg vieles verdankt, repräsentieren, zu schweigen von der Semiotik.
Gerade aus heutiger Sicht ist Warburgs Gedankenleistung der Rang einer epochalen Leistung zuzuweisen. Für seine Modernität spricht auch der Versuch, in Form eines Atlas sämtlicher Bildformen eine Geschichte der Brechung der Bildmagie zu dokumentieren; ein Ziel, das Walter Benjamin mit dem Film erreicht sah. Warburgs Mnemosyne -Gedächtnisarbeit spielt mit dem Gedanken einer Summe aller Bildformen, und vordergründig könnte dieses Ziel verglichen werden mit der postmodernen Verstrudelung der historischen Bildstoffe. Bei Warburg aber, der schon die Renaissance als „Zeitalter internationaler Bilderwanderung“ ansah, in dem der „Kampf um Aufklärung“ zu führen war, bedeutet das assoziative Spiel mit den Motiven den Einstieg in die historische Tiefenbohrung. Warburg, der einen „aufrichtigen Ekel vor der ästhetisierenden Kunstgeschichte“ empfindet, der die italienische Kunst als „Hallelujawiese für die Osterferien“ verkommen sieht und den es vor dem „Reisetypus des Übermenschen in den Osterferien, mit Zarathustra in der Tasche seines Lodenmantels“ schaudert, entzieht sich mit seiner außerordentlich konzentrierten Sprache einem nur vordergründig konsumierbaren Sinn. Er verlangt vom Leser beträchtliches, aber er wappnet vor dem Elend der Oberflächlichkeit.
Horst Bredekamp
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