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Kinder des Saturn

■ Zu Raymond Klibansky / Erwin Panofsky / Fritz Saxl, Saturn und Melancholie

Martin Treml

Die Sterne zwingen nicht, wohl aber legen sie bestimmte Handlungs- und Existenzweisen nahe, indem sie sie gleichsam in ihre Gunst und unter ihre Obhut stellen - dies war die Harmonisierungsformel, die hochmittelalterliche Gelehrte in der Diskussion um mögliche astrale Einflüsse auf die Geschicke der Menschen festgesetzt hatten. Saturn und Melancholie, ein Meisterwerk in mehr als einer akademischen Disziplin, scheint auf den ersten Blick dieses Verdikt zu bestätigen. Gelehrte Abhandlung ebenso sehr wie philosophische Programmschrift und persönliches Manifest nähert sie sich dem Gegenstand in ihrer Entstehungsgeschichte, Form und Ausführung derart, daß ihre Verfasser allesamt nur Kinder des Saturn sein können: inspiriert zu ihrem Vorhaben und geleitet in ihrer Tätigkeit von dem Planeten, der der zweideutigste und unheimlichste, aber auch der faszinierendste von allen ist.

Geplant war das Unternehmen als eine umfassende Interpretation von Dürers epochalem Kupferstich von 1514, der Melencolia I. Mit den Blättern Ritter, Tod und Teufel und Hieronimus im Gehäuse - sie alle sind im Kupferstichkabinett des Museums in Berlin-Dahlem zu sehen zählt die Melancholie zu den sogenannten „Meisterstichen“ der mittleren Schaffensperiode, deren eigentliches und enigmatisches Zentrum sie bildet.

Erwin Panofsky und Fritz Saxl, die als Kunsthistoriker an der Universität Hamburg, vor allem aber auch im unmittelbaren Wirkungsbereich Aby Warburgs arbeiteten, nämlich an der von ihm gegründeten und nach ihm benannten kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, legten 1923 eine vielbeachtete quellen- und typengeschichtliche Untersuchung zur Melencolia I vor. Für eine erweiterte Neuauflage zogen sie den jungen Heidelberger Privatdozenten und Fachmann für antike und mittelalterliche Philosophie Raimund Klibansky als Ko-Autor bei: um nicht nur die Bildtraditionen, sondern auch die theoretischen Stichwortgeber benennen zu können, denen die Dürersche Darstellung ihre Faszination mitverdankt. Durch die Flucht vor den Nazis und die Emigration nach England und in die Staaten blieb die Arbeit längere Zeit liegen, die letzten Korrekturen waren erst im Sommer 1939 abgeschlossen. Das Manuskript ging zurück nach Deutschland, denn das Buch sollte - immer noch - auf deutsch erscheinen. Die offenbar gewordene Barbarei des Nationalsozialismus und der Umstand, daß der Stehsatz im Krieg zerstört worden war, machten ein solches Vorhaben unmöglich. Die Autoren entschieden sich, eine englische Übersetzung zu veröffentlichen - ein Plan, den der Tod von Fritz Saxl auf Jahre hinaus verzögerte. Erst 1964 erschien Saturn and Melancholy in London und New York und ist bald als das gerühmt worden, was es ist: nicht nur eines der Hauptwerke der Warburg-Schule, sondern auch einer der Meilensteine in der Interpretationsgeschichte der Melencolia I. Anfang dieses Jahres ist das Buch dorthin zurückgekehrt, von wo seine Autoren vertrieben worden waren. Versehen mit einem Vorwort, erweiterten Fußnoten und einem Anhang aus der Hand Raymond Klibanskys - des einzigen noch lebenden der Trias -, liegt es in einer kongenialen Übersetzung von Christa Buschendorf auch auf deutsch vor. Mit den Kristallisationspunkten seiner Darstellung und den Hauptlinien seiner Argumentation soll nun bekannt gemacht werden.

Seitdem vom achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung an durch die Dynamisierung und Expansion der griechischen Gesellschaften deren alte, noch auf einer Stammesorganisation beruhende Kulte ihre Synthesis-Funktion und also die Ausbildung einer Gegensätze umgreifenden Rationalität nicht mehr leisten können, etablieren sich Konkurrenzunternehmen, deren eines - wenn auch nicht einziges - die Philosophie ist. Ihr Bemühen geht unter anderem darum, Elemente des Humanen zu definieren, die Unterschiede erklären können und doch hinreichend allgemein sein müssen. Zugleich sollen sie einer Übersteigerung so sehr fähig sein, daß sie auch als kosmische Ordnungsprinzipien in Frage kämen.

Ein entscheidendes Moment in diesem Reflexionsprozeß kommt den Humoralspekulationen zu: den Theorien von den im menschlichen Körper wirksamen Säften, die sich unmittelbar in verschiedenen Temperamenten äußern, die sanguinisch, cholerisch, melancholisch und phlegmatisch genannt werden. Ausformuliert wird diese Lehre als Pathologie und als Charakterologie in einer Parallelität, die sie durch die Jahrhunderte beibehält. Um es an der Melancholie zu exemplifizieren: sie kann als Krankheit, als morbus melancholicus begriffen werden, aber auch als habituelle Anlage, die den, der sie besitzt, sein Leben lang prägt. In den dann ausgearbeiteten Systemen haben die vier Säfte die Rolle der Kategorien inne. Nach ihnen werden die Jahreszeiten, die Lebensalter, die Elemente klassifiziert. Der Melancholie, hervorgerufen von der schwarzen Galle und ihrer trockenen Kälte, entsprechen der Herbst, die Zeit reifer Männlichkeit und als Element die Erde. Galen, der im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung am kaiserlichen Hof in Rom als der letzte große Praktiker und Theoretiker der antiken Medizin arbeitet, überliefert uns deren Bild von den physischen und psychischen Eigenschaften des Melancholikers.

„Er ist aufgetrieben, dunkelhäutig, von allerlei Begierden geplagt, niedergeschlagen (wörtlich: 'zur Erde blickend‘), furchtsam, menschenscheu, meist grundlos traurig, gelegentlich aber unvermittelt heiter sowie verfolgt von vielfältigen Idiosynkrasien, Wahn- und Zwangsvorstellungen.„

Die Konsequenz, die in der Antike aus der Humorallehre gezogen wird, ist die, daß alleiniges Ziel sowohl einer medizinischen Therapie als auch einer weisen Lebensführung das Gleichgewicht der Säfte sein müsse: einzig so sei eine wechselseitige Neutralisierung ihrer schädlichen Einflüsse und eine Potenzierung ihrer positiven Eigenschaften möglich. Es ist dies nichts anderes als die Ideologie der poleis, der griechischen Stadtstaaten. Deren Zusammenbruch im fünften Jahrhundert ist auch für die Einschätzung der Temperamente nicht ohne Folgen und kippt kurzzeitig die der Melancholie in ihr Gegenteil. Vorbereitet von der platonischen Theorie des göttlichen und also begnadeten Wahnsinns, wird sie in einer pseudoarestotelischen Schrift unter Anrufung mythischer Zeugen vom Range Herakles zur unverzichtbaren Bedingung schöpferischen Tuns erklärt. Sie ist die den Wenigen vorbehaltene Existenzform geistiger Erregung, in der Gestaltungs- und Leidenskraft zusammenfallen. Diese Umwertung wird in der Folgezeit zugunsten der kanonischen Konzeption vergessen und erst die Renaissance besinnt sich wieder auf sie.

Für die Melancholievorstellungen ebenso wichtig wie die Temperamentenlehre sind die astrologischen Spekulationen über die Planeten und deren Wirkungsmacht. Zwar werden die Götter seit dem Hellenismus in rationalistischen Deutungen entmythologisiert und damit depotenziert. In einer zweiten Bewegung setzt man sie aber als Herrscher der Gestirne ein, mit denen sie sukzessive verschmelzen: der Planet Saturn wird so ununterscheidbar vom Gott Saturn. Diese Konstruktion provoziert veritable Kulte, um die Benevolenz der Sterne herabzuflehen. Erst Theoretiker des Neuplatonismus der Spätantike wenden die magische Astrologie in eine positive Metaphysik. Sie siedeln die Planeten in der mittleren Position der Kette des Seins an, wo sie die Seelen bei deren Abstieg mit spezifischen Gaben bedenken. Derart sind die heidnischen Planetengötter fähig, das Christentum zu überleben: ihre Eigenschaften, die ehedem die Mythen erzählten, kehren nun vom himmlischen Exil als schicksalsbestimmende Mächte wieder.

Die dämonisch-gegensätzlichen Qualitäten weist Saturn auf. Unter seinem griechischen Namen Kronos ist er der Herrscher über das Goldene Zeitalter des paradiesischen Urzustandes und erfindet Landwirtschaft, Städtebau und Münzwesen. Er frißt aber auch seine Kinder und verlangt in seiner punischen Gestalt als Moloch Menschenopfer - eben darum kann Kronos zu Chronos werden, zur alles verschlingenden Zeit. Aber weiter in seinem mythischen Schicksal: der Sohn Zeus entthront und kastriert den Vater und macht ihn zu einem schmählich Vertriebenen und einsam Verbitterten. Als Planet regiert Saturn die Tierkreiszeichen Steinbock und Wassermann, und die in diesen Häusern Geborenen teilen als Saturnkinder das Unglück. Sie sind Diebe, Schwätzer, Lügner, Geizhälse - eben Söhne des Teufels. Aber ihr Vater verleiht ihnen auch die Kraft der Intelligenz und der Kontemplation, die Gabe der Prophetie und des visionären Sehens und die Neigung zu Geometrie und Architektur.

Es macht die Bedeutung der arabischen Tradenten und Systematiker dieser antiken Lehren aus, daß sie nicht nur bestimmte Planeten mit den vier Temperamenten zusammenschließen - Saturn notwendigerweise mit der Melancholie -, sondern daß sie auch den saturnischen Charakter in seiner Gegensätzlichkeit bestehen lassen. Um 1200 beginnt das Abendland sich dieses Erbes wieder bewußt zu werden in Aufnahme und Weiterentwicklung sowohl antiker Bildtypen als auch humoraler und astrologischer Spekulationen.

Das Neue geschieht vor allem in einer Subjektivierung der Melancholie. Einmal wird sie zum Synonym für Traurigkeit ohne Ursache und so zu einer von mehreren Eigenschaften des Seelenlebens. Sie ist nicht unwichtig, aber eben passagerer Natur. Zum anderen ist sie wieder die Äußerung gesteigerten Selbstbewußtseins par excellence: eingesetzt in ihre Rechte als göttlich-heroischer Furor. Der Florentiner Platonikerkreis um Lorenzo dei Medici macht die melancholia generosa, die „edle Melancholie“ zum Sinnbild der besten aller möglichen Existenzformen, zum Ausdruck des spekulativen Lebens. Marsilio Ficino, selbst ein Saturnkind, spricht in seiner Schrift Die dreifache Lebensführung (De vita triplici, 1482 bis 89) die höchste Selbstbejahung und den tiefsten Selbstzweifel, die Fähigkeit, entweder Gott oder Teufel zu werden, einzig seinen Saturngeschwistern zu. Das Ziel seiner Lehre kann dialektisch genannt werden: die existentielle Gefährdung der von Saturn Gezeichneten ist erst durch die Zuwendung zu und die Anerkennung von ihrem Regenten in Inspiration verwandelbar.

Für die Melencolia I erweist sich die ficinische Theorie als von überragender Bedeutung. Der nördlichen Renaissance vermittelt und akzentuiert hat sie der Erzmagier und Hexenmeister Cornelius Agrippa in der - erst vor wenigen Jahrzehnten glücklich wiedergefundenen - Urfassung seiner Okkulten Philosophie (1510), die Dürer gekannt hat. Das erklärte Ziel dieses Traktates der weißen Magie ist die Erlangung göttlicher Offenbarungen. Diese seien erreichbar unter Zuhilfenahme vermittelnder Dämonen aus den astralen Räumen nach Leerwerden der Seele von störenden Affekten. Sie zeigen sich in drei Formen: als Wahrträume, als Entrissenwerden in die höchste Sphäre qua Kontemplation und als Erleuchtung - und eben diese heißt furor melancholicus. Die Konsequenz der Reflektionen Agrippas ist so die Erweiterung der Selbstverherrlichung Florentiner literati zu einer allgemeinen Genielehre. Nicht nur Philosophen, auch Staatsmänner und Artisten seien für die inspiratorische Melancholie empfänglich, die deshalb drei Arten kennt: die obere oder mentale, die mittlere oder rationale und die untere oder imaginative - und jene hat nun Dürer als Melencolia I versinnbildlicht.

Freilich ist sie in einem Moment der Krise dargestellt. Inmitten ihres Melancholiegerümpels - das sie zum Typ der fünften der Freien Künste, der Geometrie macht - sitzt verdüstert und doch mit seltsam leuchtendem Blick eine geflügelte Frauengestalt. Neben ihr schreibt selbstvergessen ein Putto, in seiner Tätigkeit wie gefangen. Zu seinen Füßen döst ein halbverhungerter Gelehrtenhund. Im Zwielicht des Hintergrundes liegt eine überflutete Landschaft, an deren Himmel sich kosmische Erscheinungen zeigen und über den eine Fledermaus fliegt, die in ihren Krallen den Bildtitel trägt.

Die melancholisch beseelte Figur ist in einem Nichtstun versunken, das jenseits äußerer Aktivität steht. Es ist das Nichtstun-Können vor der Macht innerer Gesichte, der Zweifel an der Gültigkeit der Vorstellungen, das schwermütige Gefühl, nichts erreichen zu können. Gegenüber dem unbewußten Leiden des schlafenden Hundes und der leidlosen Bewußtheit des tätigen Kindes wird in der Gestalt der Melancholie das bewußte Leiden des schöpferischen Menschen dargestellt - so die Quintessenz der Interpretation.

Zugleich zeigt Dürer die für seine Kunsttheorie zentrale Einheit von wissenschaftlichem Kalkül und handwerklicher Ausübung als zerbrochen. Dem tatenlosen Denken der Melancholie entspricht das gedankenlos Tun des Puto - und beide sind an den Grenzen ihres Erkennens und Vermögens angekommen. Zurecht kann die Melencolia I deshalb den Dürerschen Selbstporträts zugerechnet werden, deren gleichsam allegorischen Typ sie repräsentiert. Wir wissen aus seinen Schriften und den Äußerungen seiner Zeitgenossen, daß er sich als Melancholiker und so als in seiner Genialität Leidender begriff. Das von Dürer geleistete Aufsprengen des szientifischen Selbstbewußtseins älterer italienischer Kunsttheorien weist auf eine existentielle Leere, die ungewiß inspiratorischer Kräfte harrt und die Möglichkeit des Scheiterns birgt - eine Gefährdung, der schöpferisches Tun bis heute ausgesetzt ist.

Raymond Klibansky/ Erwin Panofsky/ Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übersetzt von Christa Buschendorf. Suhrkamp Verlag. 640 Seiten mit 160 s/w -Abbildungen, 98 Mark.

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