: Zeitschinden ist keine Politik mehr
Die Grünen sind immer noch Hauptbedenkenträger gegen die deutsche Einheit ■ G A S T K O M M E N T A R
Es gibt nach der Zustimmung des Bundestages zum Staatsvertrag keinen ernsthaften innenpolitischen Grund mehr gegen schnelle gesamtdeutsche Wahlen. Sie werden Anfang Dezember dieses Jahres stattfinden. Namhafte Politiker vom Bündnis 90 wollen das jetzt auch. Wenn schon am 2.Juli das Geld für die DDR fließt, dann aber bitte auch alle Grund und Bürgerrechte, Anspruch auf Finanzausgleich für die neuen DDR-Länder, Bundesverfassungsgericht, und zwar so schnell wie möglich - so argumentieren sie.
Zeit schinden als politisches Konzept in der Bundesrepublik, wie wir Grünen das unausgesprochen vertreten - macht keinen Sinn, wenn mit der Gründung der Länder vor den gesamtdeutschen Wahlen auch der letzte Einwand ausgeräumt ist. Innenpolitisch weiß ich kein plausibles Argument mehr dagegen, auch wenn die grüne Seele sich noch so windet.
Dennoch ist diese Entscheidung für die volle Einheit jetzt politisch falsch. Sie kümmert sich überhaupt nicht um die europäische Dimension der deutschen Einigung. Ist es denn richtig, egoistisch nur an die deutschen Interessen zu denken und die berechtigten Wünsche unserer europäischen Nachbarn, besonders Polens und der Sowjetunion außer acht zu lassen und darüber hinwegzugehen nach dem Motto: 'Das regeln wir später‘?
Die politisch Verantwortlichen sollen sich jetzt, nachdem die Währungsunion laufen wird, die Zeit nehmen - zwei Jahre zum Beispiel - um in aller Ruhe mit allen beteiligten Völkern und Regierungen eine neue europäische Friedensordnung im Rahmen des KSZE-Prozesses aufzubauen und damit beide Militärblöcke nicht nur zu verändern, sondern aufzulösen. Diese Forderung nach einem Neuanfang in Europa ohne die alten nationalstaatlich definierten Interessengegensätze der europäischen Außenpolitik.
Schöne Idee; Fakt aber ist: Auch der Zug ist schon längst abgefahren. Wir wählen Anfang Dezember gesamtdeutsch - bei den Zwei-plus-vier-Gesprächen wird die Sowjetunion mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie hat die faktische Ausdehnung der Nato zu akzeptieren. Sie hat nur noch die Möglichkeit, bis zum Wahltermin im Dezember ein Verhandlungsergebnis zu erreichen, mit dem sie demonstriert, daß sie gleichberechtigter Verhandlungspartner war. Sträubt sie sich über diesen Zeitraum hinaus oder blockiert sie offensiv den Einigungs- und Ablöseprozeß der Vorbehaltsrechte der Alliierten, dann würde sie international als der Bremser der deutschen Einheit gebrandmarkt und sich gefährlich isolieren. Daran trägt die Sowjetunion natürlich zum großen Teil auch noch selber Schuld. Sie hat durch ihre stalinistische, imperiale Weltmachtpolitik ihr Land wirtschaftlich so ruiniert, daß die Sowjetunion heute solch einen Preis zahlen muß, wenn sie überhaupt eine demokratische Perspektive haben und sich auf den Westen Europas zu entwickeln will. Wie gering der Spielraum der Sowjetunion heute nur noch ist, haben wir in Gesprächen in Paris, Rom und London festgestellt. Überall dort, wo anfänglich Widerstände gegen Kohls Kurs existierten, hat die Sowjetunion bei ihren Forderungen nach Respektierung ihrer Sicherheitsinteressen keinen ernsthaften Bündnispartner mehr. Alles was sie erreichen kann, sind große wirtschaftliche Zugeständnisse, Hilfe für den Wiederaufbau der Sowjetunion und Absichtserklärungen, wie das neue Europa irgendwann einmal aussehen soll. Wir werden in Zukunft zu beachten haben, daß der Prozeß der Einheit der neuen deutschen Republik mit einer Demütigung der Sowjetunion begonnen hat.
Das sind die Realitäten. Zeitschinden ist keine Politik mehr. Die Grünen sind immer noch die Hauptbedenkenträger gegen die Einheit. Wir stehen uns damit selber bei der Entwicklung einer demokratischen und ökologischen Konzeption für die Rolle der neuen deutschen Republik in Europa im Weg. Es geht doch um nicht weniger als die politische Idee der Auflösung dieses neu entstehenden Kolosses Deutschland in die EG. Es geht um den neu zu gründenden europäischen Bundesstaat und ein KSZE-Sicherheitssystem für Europa mit einem gemeinsamen Oberbefehl aller beteiligten Länder für eine europäische Friedenstruppe. Wir Grünen müssen aus der elenden Rolle des Hundes raus, der immer am Wege bellt, aber die konservative Karawane vorbeiziehen läßt.
Willi Hoss Der Autor ist Bundestagsabgeordneter un
Fraktionssprecher der Grünen in Bon
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