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Ein weißer Fleck verschwindet

■ Heute ist Weltdrogentag / taz-Redakteurin Martina Habersetzer sprach mit dem Berliner Drogenexperten Berndt Georg Thamm über die Situation im von der Drogenmafia bislang unberührten Ost-Berlin

Ein drogenfreies Land gibt es nicht und hat es nie gegeben. Nur durch die Legalisierung und die damit verbundene Entkriminalisierung von harten und weichen Drogen läßt sich Drogenmißbrauch überhaupt minimieren, ist die zentrale These des bundesweit anerkannten Westberliner Drogenexperten Berndt Georg Thamm (44). Diese aufsehenerregende Argumentation ist das Ergebnis von 20 Jahren intensiver Beschäftigung mit dem Thema Drogen. Die ersten Erfahrungen machte er als Kibbuz-Arbeiter 1968 mit jüdisch -amerikanischen GIs, die sich nach ihrer Rückkehr aus Vietnam von Beduinen mit Opium versorgen ließen. Aufmerksam geworden, schloß er sich 1969 an der Westberliner Freien Universität der bundesweit ersten Forschungsgruppe „Soziale Medizin“ an, um dann elf Jahre lang das Drogenreferat des Caritas-Verbandes zu leiten. Als Drogensachverständiger arbeitet Thamm für das Europaparlament. Für internationales Aufsehen sorgte er mit seinem 1989 erschienenen Buch „Drogenfreigabe - Kapitulation oder Ausweg“, in dem er sich offensiv für die Legalisierung von Drogen auspricht. Daß dieses Buch im Verlag „Deutsche Polizeiliteratur“ erschien, zeigt, daß auch führende Kräfte innerhalb der Polizei in der Strafverfolgung von Drogenabhängigen nicht mehr die allein seligmachende Methode sehen, sondern sich zunehmend mit liberaleren, wirkungsvolleren Herangehensweisen befassen.

taz: Wird die DDR und Ost-Berlin mit Einführung der bundesdeutschen Währung jetzt ein riesiges Absatzpardies für jede kriminelle Drogenorganisation?

Berndt Georg Thamm: Ja, das kann man so sehen. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist Westeuropa von der Drogenmafia bereits in den 80iger Jahren eigenständig erschlossen worden, parallel dazu wurden und werden auch in Osteuropa massiv Drogen verbreitet. Beginn war '81 mit Polen, dort schätzt man heute die Anzahl der Betäubungsmittelabhängigen auf 250.000, das sind, bei weniger Bevölkerung, doppelt so viele, wie in der BRD geschätzt werden. In Ungarn wird die Zahl auf 50.000 geschätzt, in der CSFR auf 100.000, in Jugoslawien wurden schon vor über 10 Jahren mindestens 10.000 geschätzt und in der Sowjetunion liegen die Schätzungen zwischen 130.000 und weit über 300.000. Der weiße Fleck im Lager der osteuropäischen Staaten ist bislang nur die DDR.

Man darf nun davon ausgehen, daß die DDR, nicht nur suksessive, sondern ganz systematisch in das Drogengeschäft mit einbezogen wird.

Wie wird Ihrer Einschätzung nach die DDR-Bevölkerung auf die heranrollende Drogenwelle reagieren?

Es ist auf jeden Fall zu vermuten, daß eine Angebotserweiterung von der DDR-Bevölkerung angenommen wird, denn: Der Griff zur Droge und das Suchtverhalten insgesamt ist bei den DDR-Bürgern vergleichbar mit den Bundesbürgern. Das trifft auf den Mißbrauch des Tabakkonsums und insbesondere auf den Mißbrauch von Alkohol zu. Das Mißbrauchsverhältnis bei Medikamenten ist ähnlich und es hat auch ab und an in der DDR Mißbrauch von Schnüffelstoffen gegeben. Hinzu kommt eine Bereitschaft, gerade bei jungen Leuten zwischen 15 und 25. Sie kennen die Drogen, mit denen wir uns seit einem Vierteljahrhundert herumplagen, letztendlich nur aus Erzählungen oder anderen Quellen, aber nicht durch eigene Erfahrungen. Da ist eine Art Neugierde da, daß ein nicht unerheblicher Prozentsatz es zumindest gern mal probieren würde. Hinzu kommt die wirtschaftlich schwierige Situation in den nächsten Jahren, verbunden mit einer hohen Arbeitslosenquote, Zukunftsängste, Orientierungslosigkeit - Indikatoren, die den Griff zur Droge begünstigen.

Mit welchen speziellen Problemen wird die Bevölkerung im Ostteil Berlins dann konfrontiert?

Selbst wenn dort jetzt harte Drogen auf dem „freien“ Markt erhältlich sind, ist das Einkommensgefälle auch nach der Währungsunion so groß, daß viele junge Leute zu Zwischenpräparaten greifen könnten. Beispielsweise statt Heroin aus dem Westen für teures Geld wesentlich billigeres Mohnstroh aus Polen. Statt teurem Kokain billiges Amphetamin. Nicht teures Kokainhydrochlorid, sondern Kokain -Billigvarianten. Möglicherweise muß man sich darauf einstellen, daß Koksbilligvarianten wie Crack auf den Markt kommen, die in den USA ja ursprünglich für einkommensschwache Verbraucher gedacht waren. Das sind alles Überlegungen, die man nicht nur denken, sondern laut ansprechen sollte, mit Berücksichtigung der entsprechenden physischen Folgen.

Was würden Sie aus Ihren Erfahrungen heraus angesichts der heranschwappenden Drogenwelle den DDR-Bürgern raten?

Sie müßten sozusagen im Crash-Kurs das Drogen-ABC internalisieren: Was gibt es überhaupt, wie sind die Wirkungen, wo sind Risiken, wo sind Gefahren toxischer Natur, anderer Natur, psychische Komponenten, physische Komponenten, was - das muß man hinzu sagen - auch viele Westdeutsche bis zum heutigen Tag nicht wissen. Nur hat die Gesellschaft hier - nicht gewollt und nicht gewünscht - es mit ach und krach sehr schmerzhaft gelernt, mit diesem Problem zu leben. Und diese Erfahrung fehlt den DDR-Leuten gänzlich. Was sie kennen ist letztendlich die Sucht und auch deren Folgen - wenn man legale Suchtmittel wie Alkohol und Tabletten mit einbezieht.

Also Lernprozesse einerseits bei der Bevölkerung, aber sicher auch bei der Polizei...

Aber sicher. Sämtliche Sicherheitsbereiche, die bisher überhaupt nicht darauf eingestellt waren, sich mit diesen Deliktbereichen auseinandersetzen zu müssen, sind jetzt hart gefordert. Beim Zusammenschluß beider deutscher Staaten wird die ganze sogenannte Rauschgiftabwehr an die Außengrenzen verlagert, die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen entfallen. Das hieße, daß zum geographischen Osten hin die Rauschgiftabwehr an der Grenze zu anderen osteuropäischen Ländern stattfinden müßte, desgleichen in See- und Flughäfen. Es ist zu erwarten, daß auf dem Landweg neue Schmuggelrouten entstehen, über die UdSSR nach Mitteleuropa oder über die DDR in die BRD. Selbst zwischen den Geheimdiensten KGB und CIA gibt es darüber bereits Gespräche. Das macht klar, daß es sich nicht um ein DDR -spezielles Problem handelt, sondern daß die 90er Jahre bestimmt werden von weltweit vernetztem organisiertem Verbrechen, professionellem Drogenhandel und Schmuggel sowie Terrorismus. Für ein vereinigtes Deutschland hieße das, daß baldmöglichst eine Rechtsangleichung, ein einheitliches Betäubungsmittelgesetz gelten müßte.

Plädieren Sie für eine Übernahme des BTM-Gesetzes oder sehen Sie hier Möglichkeiten, Legalisierungen einzuführen?

Schwierig. Die Legalisierung berührt internationales Recht. Wir haben die Situation, daß von den insgesamt über 170 Ländern der Welt die überwiegende Mehrheit drei internationale Suchtstoffmittelabkommen verabschiedet hat. Und die beinhalten letztendlich nicht nur die internationale Ächtung von Drogen sondern auch deren Umsetzung bei den UNO -Mitgliedsstaaten in der jeweilig nationalstaatlichen Drogengesetzgebung. Und da ist eigentlich für diese Dekade der „War on drugs“ angesagt. Überall wird in diesem Krieg derzeit aufgerüstet, bilderbuchhaft in den USA, die spätestens seit der Panama-Invasion die Rauschgiftabwehr auch militarisiert haben. Es sind mittlerweile auch sehr harte Töne aus Italien zu hören, aus Großbritannien, Frankreich und der BRD. Baden-Württemberg und Bayern haben Gesetzesinitiativen gemacht, wonach das Instrumentarium der Bekämpfung erheblich zu erweitern: gesetzliche Festschreibung des verdeckten Ermittlers, technische Überwachung, Rasterfahndung etc. Darauf setzt man nun. Nur es ist letztendlich mehr von demselben, was man bisher versucht hat. Wenn man es aber wirklich mal aufrechnet, unahängig von Ethik und Moral, sondern nur im Hinblick auf die Effektivität, muß man heute sagen, daß trotz aller Rauschgiftabwehrmaßnahmen die polizeilichen Sicherstellungsmengen international in der Größenordnung von drei bis fünf Prozent liegen. Das heißt, 95 bis 97 Prozent erreichen die Endverbraucher, damit kann jedes große Kaufhaus leben.

Das heißt?

Ich bin der Meinung, daß Prohibitionspolitik langfristig mehr Schaden anrichtet. Zu allererst müßte man, das wäre auch politisch umsetzbar, das schwächste Glied der Kette, den Endverbraucher, den kleinen Straßenfixer, rausnehmen aus dem polizeilichen Gegenüber. Das polizeiliche Gegenüber ist das organisierte Verbrechen, nicht der Drogenkonsument. Und das darf keine „Kann„-Bestimmung sein - das gibt das jetzige BTMG ja schon her, daß von Strafe beim Verbraucher abgesehen werden kann - man muß die Entkriminalisierung der Endverbraucher festschreiben.

Hieße das nicht, einen Teil der Drogen zu legalisieren, um somit auch die Beschaffungskriminalität zu verhindern?

Ja, denn die Entkriminalisierung der Verbraucher hat noch keine Auswirkungen auf die Beschaffungskriminalität, denn die Ware ist dann nach wie vor verboten und hat nach wie vor den Preis, der den Abhängigen in die Delinquenz zwingt. Denkbar wäre in einem zweiten Schritt, daß man nach Wegen der Ersatzdrogenvergabe - Methadon, Polamidon - sucht und praktiziert. Und das ließe sich übertragen, wie der Hamburger Senat es mal in Erwägung gezogen hat, auf die Abgabe sogenannter harter Drogen unter staatlicher Kontrolle mit fachlicher Begleitung.

Steht das nicht im Gegensatz zu der bislang praktizierten restrektiven Bekämpfungspolitik?

Richtig. Und deswegen wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht möglich sein, sondern ein frommer Wunsch bleiben. Man muß ja nur mal gucken, wie wir im Westen mit Suchtkranken umgehen. Wir haben ja erhebliche Vorurteile gegenüber Abhängigkeitskranken, die von legalen Suchtstoffen abhängig sind. Das ist auch erklärlich: Sucht als anerkannte Krankheit ist ja keine uralte Sache, sondern, rechtlich gesehen erst in den 60iger Jahren festgeschrieben worden. Bis dahin ist immer der Zusammenhang Drogen und Kriminalität hergestellt worden, so daß bei jedem Abhängigen von illegalen Drogen immer der Nimbus, das Flair des Gesetzesübertritts, der Kriminalität da war. Und das hat sich leider bis heute so gehalten.

Die DDR muß also die gleichen Erfahrungen machen, wie sie die BRD bereits hinter sich hat...

Nicht ganz. Der Einstieg ist ungleich härter. Was wir in 25 Jahren erlebt haben, wird die DDR in 5 Jahren schaffen. Für die Tätergruppen im Drogen-Topgeschäft ist es letztendlich unerheblich, ob sie heute die BRD, morgen die DDR und übermorgen ein Gesamtdeutschland bedienen. Es soll schon seit einigen Jahren enge Kontakte zwischen Gruppen des organisierten Verbrechens aus der UdSSR und aus Westeuropa geben - so daß möglicherweise von zwei Seiten her auf die DDR eingestürmt wird.

Besteht durch die Gesetzgebung in der DDR nicht ab dem 1. Juli im gewissen Sinne ein rechtsfreier Raum?

Es ist so eine Art Goldgräberrausch, eine Aufbruchstimmung. Aber nicht nur das, es sind auch diffuse Ängste da. Die Kollegen müßten drüben innerhalb kürzester Zeit ihr Drogengesetz aus dem Jahre 1972 novellieren - und dabei würde man sich wahrscheinlich am bundesdeutschen BTMG orientieren oder es übernehmen.

Was ich mir vorstellen könnte, ist, daß die DDR dazu ermutigt wird, einen sehr harten Kurs zu fahren. Aber wenn man das täte, würde man in der DDR einen wirklich vermeidbaren Fehler begehen. Die Erfahrung bei uns hat gezeigt, wenn man den Konsumenten in die Drogen- und Verbrechensbekämpfung mit einbezieht, richtet man langfristig mehr Schaden und Unglück an. Junge DDRler, die mit Drogen konfrontiert werden, könnten dann nicht offen und frei auf helfende Institutionen zugehen, sondern würden innerhalb kürzester Zeit in ein sich entwickelndes subkulturelles Milieu abgedrängt und würden sehr viel schneller kriminalisiert werden.

Ist Ihnen bekannt, ob der Drogenmißbrauch in Ost-Berlin schon jetzt gestiegen ist?

Ja, bei Cannabis. Ohne es allerdings quantifizieren zu können. Bei harten Drogen gibt es bislang garkeine Zahlen. Es ist auch sehr schwer, an solche Zahlen heranzukommen, zumal es Grenzkontrollen kaum noch gibt.

Was sind angesichts dieser bevorstehenden Entwicklung Ihre schlimmsten Befürchtungen?

Zum einen, daß in den Top-Level des internationalen Verbrechens auch bundesdeutsche Täter hineingehen, was bisher nicht so der Fall war. Zum anderen: Durch die derzeitige Bewegung in den osteuropäischen Ländern, die beginnende Demokratisierung und die Entmachtung alter Gruppen könnte die - Stasi, Securitate - durch Querkontakte oder Reanimation von Geschäftskontakten auch in das Drogengeschäft einsteigen.

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