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Die Kinder der Rebellen

■ Weitab und einsam im Pazifik liegt die winzige Felseninsel Pitcairn, 2.000 Kilometer südöstlich von Tahiti. Fast alle der 50 Einwohner sind Nachkommen der legendären Meuterer der Bounty. In diesem Jahr feierten die Pitcairner den 200. Jahrestag der Landung von Fletcher Christian, seinen Mitstreitern und deren polynesischen Frauen auf der Insel.

ULLI KULKE war, wenn schon nicht bei der Meuterei selbst, so doch bei den Feierlichkeiten dabei.

roße 200-Jahr-Feiern kamen weltweit in Mode im ausgehenden 20. Jahrhundert: Die USA feierten ihre Unabhängigkeit, Australien erinnerte sich seiner damaligen Besiedlung und die Franzosen begingen den Jahrestag ihrer Revolution - all dies Beweise dafür, daß die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts eine bewegte Epoche gewesen sein müssen. Und nun reihte sich auch noch das winzigste Staatswesen ein in diese Kette von Jubilaren: Pitcairn. Die 200-Jahr-Feier dieser 50köpfigen Gemeinde geht auf ein Ereignis vor 200 Jahren zurück, das wie kaum ein anderes den damaligen Zeitgeist widerspiegelt: Freiheitsdrang und aufkommendes romantisches Aussteigertum im Kampf mit dem langen Arm der gnadenlosen Obrigkeit, die all dies nicht dulden durfte, aber mußte.

Kaum einer hat je von Pitcairn gehört, obwohl fast die ganze Welt jenes Ereignis in den Jahren 1789/90 kennt. Doch fast niemand weiß so recht, ob es sich dabei um ein Märchen oder um Historie handelt. Tatsächlich war es denn auch eine wahre, aber märchenhafte Begebenheit mit Schurken, Tyrannen, Helden, und das Ganze mit Mord und Totschlag auf einem Eiland am anderen Ende der Welt gewürzt. Zu guter letzt kann man diese Geschichte auchnoch frei nach Grimms Märchen beenden: „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“ - beinahe jedenfalls.

m vergangenen Januar wurde ganz feierlich ein drei Meter langes Schiffsmodell verbrannt - in der Bucht vor einer der kleinsten und abgelegensten Inseln des südlichen Pazifik: Pitcairn. Zum Gedenken daran, daß exakt 200 Jahre zuvor an derselben Stelle die Flammen aus einer richtigen Dreimastbark loderten: Das Ende der „H.M.S. Bounty“, dem Schiff, das die heute legendären Meuterer ein dreiviertel Jahr zuvor in ihre Gewalt gebracht hatten: Käptn William Bligh, der unbeliebte Kommandant, war kurzerhand samt einer Handvoll Getreuer mitten im Pazifik ausgesetzt worden. Heute heißt die Bucht „Bounty-Bay“. Die Überreste der Bark sind in zehn, fünfzehn Metern Tiefe zu besichtigen. Die Outlaws hatten sie in Brand gesteckt, um nicht von vorbeifahrenden Schiffen entdeckt zu werden. Der Wert des Schiffes war für sie ohnedies begrenzt: Sie hätten sich nirgendwoanders mehr blicken lassen dürfen.

Einiges von der Bounty hat den Zahn der Zeit überlebt. Der große Anker wurde vor vielen Jahren gehoben und ziert heute den Hauptplatz der Inselsiedlung. Die Bounty-Bibel, mit deren Hilfe die Kinder der Meuterer vor 200 Jahren Lesen und Schreiben lernten, wird in der Kirche, einer heiligen Reliquie gleich, aufbewahrt, und die Schiffsaxt hängt hinter dem Schreibtisch der Inselsekretärin. Heutige Souvenierjäger indes werden gewarnt. Unten am Schuppen in der Bounty-Bay hängt ein Schild: „Wer Teile von der Bounty entfernt oder dabei Hilfe leistet, wird mit einer Strafe bis zu 250 Dollar belegt.“

All die Eigenschaften, die weiland dieses Versteck für die meistgesuchten Meuterer ihrer Majestät so attraktiv machten, treffen auch heute noch auf die viereinhalb Quadratkilometer große Insel zu. Ihre völlige Abgeschiedenheit: Keine Schiffahrtslinie fährt Pitcairn regelmäßig an. Zur nächsten bewohnten Insel, Mangareva, werden keine Beziehungen unterhalten. Das Postschiff tutet nur viermal pro Jahr. Und auch andere Dampfer - auf dem Weg vom Panamakanal nach Neuseeland - machen nur sehr unregelmäßig nach einem kleinen Umweg Zwischenstop. In diesem Fall müssen sie meilenweit vor der Küste ankern und auf die auslaufenden Boote der Insulaner warten.

Auf der Insel selbst gibt es kein Fahrzeug, mit dem man sich weiter hinaus auf den Ozean wagen könnte. Dies hängt wiederum mit ihrer totalen Unzugänglichkeit zusammen, die den Bau jedweden Hafens verbietet: Rundum Steilküste und in der Mitte Felsen, die erst recht keinen Flughafen zulassen.

All das ist Ursache dafür, daß sich auf der Insel Pitcairn eine ganz spezielle Gesellschaft bis heute halten konnte. Die 50 Einwohner Adamstowns, Hauptstadt und einziger Ort, sind bis auf wenige zugereiste Ausnahmen allesamt Nachfahren der Bounty-Meuterer und deren polynesischer Frauen, die nach der Meuterei in Tahiti an Bord der Bounty gekommen waren. Ist nun die totale Abgeschiedenheit der heutigen Pitcairner als Fluch der bösen Tat ihrer Vorfahren und deren Freiheitsdrang anzusehen? Keineswegs - es gibt kaum einen von ihnen, der mit jemandem aus der „verrückten äußeren Welt“, wie man sich dort ausdrückt, tauschen möchte.

eralda Warren, eine Frau mit polynesischer Leibesfülle und anheimelnder Gesangsstimme, trug im Zuge der 200-Jahr-Feiern Pitcairns ihre Balladen vor: „I have the blood of the mutineers“, sang sie unter anderem - zu Recht. Sie zählt gleich drei von den Meuterern zu ihren Ahnen. Im Laufe der Generationen überkreuzten sich die Stammbäume vieler Pitcairner. Meralda ist stolz auf ihre Abstammung: „Sicher, vom rechtlichen Standpunkt war es nicht korrekt, aber ich bin stolz auf die Meuterer, weil ich heute hier lebe.“ Damit denkt sie wie die meisten ihrer Landsleute auf der Insel.

Als strenggläubige Christen, die sie heute sind, haben sie zu dem Akt des Ungehorsams selbst ein eher gespaltenes Verhältnis. Tom Christian, Urururenkel des damaligen Anführers Fletcher Christian, meint gar, daß dessen Kollegen seinerzeit zu Recht gehenkt wurden - einige kamen nicht mit nach Pitcairn, wurden später auf Tahiti aufgespürt und unter dramatischen Umständen nach London überführt: „Damals sind Menschen wegen weit geringerer Vergehen zum Tode verurteilt worden.“ Dennoch sind sich alle bewußt, daß sie ohne diesen Akt jetzt nicht auf dieser Insel leben könnten, und eben darauf sind sie „stolz“.

Meralda möchte nicht nur an keiner anderen Stelle der Welt leben. Sie möchte die „äußere Welt“ auch weitgehend ferngehalten wissen von Pitcairn. Sie hat Angst vor den Überlegungen einiger Pitcairner, die trotz widriger Topographie versuchen wollen, eine Landepiste anzulegen: „Wir würden unsere Art zu leben verlieren. Dann wäre es hier nicht mehr besser als irgendwo auf der Welt. Die Touristen kämen, die Restaurants, die Hotels. Dann müßten wir das, was wir heute aus freien Stücken machen, nämlich Fischen und Gartenbau, kommerziell organisieren. Die ganze Lebensfreude wäre dahin.“

ls Meralda sich so vehement gegen eine schnellere Verbindung von und nach Pitcairn aussprach, ahnte sie allerdings noch nichts von dem Unglück, das die Inselgemeinde ein paar Tage später just während der feierlichen Tage heimsuchte, und das die fatale Abgeschiedenheit erschreckend deutlich machte. Die kleine Tochter des Pastors stürzte die Klippen hinunter und kämpfte im Krankenzimmer am Dorfplatz eine Nacht lang bei Verdacht auf Schädelbruch mit dem Leben. Ihre Mutter, ausgerechnet die einzige Krankenschwester Pitcairns, war beim Rettungsversuch hinterhergefallen und hatte eine komplizierte Kniefraktur erlitten. Auf dem Platz und später in der Kirche versammelten sich alle zum Gebet, Pitcairner und Besucher, und so sind die Siebenter-Tags-Adventisten auch fest davon überzeugt, daß das Kind letztendlich „von oben“ gerettet wurde. Grund genug gab es für solche Gefühle.

Zwar war zufällig ein amerikanischer Arzt unter den Jubiläumsgästen, aber auch dessen Möglichkeiten waren begrenzt beim Schädelbruch. Bei all den Versuchen Tom Christians, über die Kurzwellenstation Hilfe zu organisieren, wurde den Insulanern doch wieder einmal ihre Isoliertheit klar. Tom ist sowieso stärkster Verfechter einer Landepiste „für den medizinischen Notfall“, wie er fast prophetisch einen Tag vor dem Unglück in einem Interview erklärt hatte. Zum großen Glück der Pastorenfamilie lag schließlich am nächsten Tag das gewaltige Kreuzfahrtschiff „Maxim Gorki“ zu Besuch vor der Küste. Im Schiffshospital konnten Mutter und Kind dann unter Begleitung von Meralda nach Tahiti gebracht und gerettet werden.

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