: Wracks, Popo-Kniekick, Freiheitsdrang
■ Kurzweilige abendliche Promenade über das Kulturensemble Bürgerweide
„Germany is great“, dröhnt es am Samstagabend schon von weitem von der Bürgerweide. Die „Swatch Euro-Roadshow 90“ hat zum kostenlosen Playback-Genuß diverser Bands geladen. Die untergehende Sonne vergoldet vielleicht 300 Jugendliche, viele in Distanz, einige sind gleich im Auto sitzengeblieben. Die Bürgerweide, sonst ein leeres Feld mit Stromanschluß und Toiletten, hat heute den Flair einer US -Kleinstadt mit Autokino.
Uhrwerksmusik, über beständigem Beat kleine Variationen, das Gleiche immer ein wenig anders - die Freiheit zu wählen. Rechts und links der Bühne hängen in Riesenformat die Popuhren des Schweizer Veranstalters, die Stadthalle reckt ihre Betonstreben ungerührt drüber hinweg. „Do you want more?“ fragt der Moderator, „no-no-no-no-no“, ein paar 15 -Jährige reißen immer mehr Leute mit. Erst ein Sänger mit Rastazotteln und gebügelter Bundfaltenhose hat ihre Sympathie: „Can you say yeah?“
Können sie. Auch einige der unzähligen Pferdeschwänze schlenkern nun mit im Takt, sofern sie nicht vorher mittels Spray zur Erstarrung gebracht wurden. Auf einer Videoleinwand vergrößert sich das Ereignis selbst, die ausfransenden Ränder des kleinen Publikums sind weggeschnitten.
„Das ist doch dasselbe wie aus dem Radio“, meint hundert Meter weiter der Holländer Charel Mullens, wischt sich eine plüschene Vorhangkordel aus dem Gesicht und tritt vor seinen Wohnwagen. Rundum Autowracks. „Bei uns geht es um menschliche Grenzen.“ Mullens betreut die Stunt-Show, die einige Tage in Bremen gastierte. Da fahren Autos mit Vollgas Stoßstange an Stoßstange oder auf zwei Rädern. Eine „lebende Fackel“ gibt es auch, „aber ohne Spezialgel, wie im Film, sondern nur mit bißchen Wasser auf dem Kostüm“. Ein paar Zuschauer sind immer dabei, die Blut sehen wollen, erzählt der strohblonde Mensch.
Die Sonne verschwindet hinter einem „Monster-Truck“, einem Landrover auf Panzerketten. Der zerquetscht vor Feierabend in voller Fahrt alte Autos - ein absoluter Publikumsliebling. „Aber wenn wir ganz oben auf einem Riesenmast einarmig Handstand machen, dann klatschen die Leute kaum.“
Wir bummeln weiter über das kulturelle Ensemble Bürgerweide: Der Theaterhof Priessenthal macht gerade Pause; Grüppchen von leicht Angejahrten flanieren zwischen Zelt und den antiken Wohnwagen der Landkommune, sittsam ins Gespräch vertieft. Auch am neuen Skater-Eldorado ist der Tag noch nicht zu Ende: Unermüdlich proben drei Jungs die schnelle Wende an der Kuhlenkante. Ein Schnipp, das Brett klemmt unterm Arm. Ernste Gesichter kontrastieren mit quietschbunten Bermudas. Zwei langmähnige Motorradfahrer, Helm in der Hand, schauen den Youngsters mit hängenden Kiefern zu.
Zwei Autos fahren spazieren auf der Bürgerweide, die Fenster runtergekurbelt, „haste eben geseh'n, wie der sich auf die Schnauze gelegt hat - geil!“ Ein Benz brettert quer über das Feld - des Abends führen hier die Bürger ihren Freiheitsdrang Gassi. Am Rand der Uhren-Disco sechs Halbwüchsige im archaischen Rundkreis, üben den Überkreuz -Trippler und den Pogo-Kniekick, Turnschuhsenkel um die Knöchel, lässig lappt die Lasche, möchten so gern ein klein wenig verrückt sein.
Und die Bürgerinnen? Gern läßt sich das Mädel auf der Motorhaube 200 Meter weit fahren - außer Sichtweite der Disco steigt sie wieder ein. Im Abseits ein kleines Mädchen, zertritt die Speichen eines liegengebliebenen Damenknirpses, zerreißt sodann mit Bedacht die cremefarbenen Zwischenhäute. Christine Holc
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