: Super-GAU auf der Autobahn
■ Die gerechteste Art der Fortbewegung bestimmt seit gestern das Straßenbild: der Stau. Im Stau sind alle gleich. Von Flensburg bis Passau, Warnemünde bis Schleiz sind am Wochenende 10 Millionen Fahrzeuge on the road. Da fällt auch dem ADAC nichts mehr ein.
„Elfriede, gib mir mal ein Erfrischungstuch“
„Reisewelle wie noch nie“, „Deutschland im Stau“, „Zehn Millionen in der Karawane“, „Verkehrschaos in brütender Hitze“. Eine kleine Auswahl des aktuellen Ausblicks auf das zweite Juli-Wochenende, das spannend zu werden verspricht: Der alljährliche Zug der Lemminge erreicht einen ersten fulminanten Höhepunkt. Mit dem Ferienbeginn in Niedersachsen, Bremen und Berlin und bei Opel in Rüsselsheim und Kaiserslautern befindet sich das gesamte Bundesgebiet bis auf Bayern und Baden-Württemberg im Urlaub. Komplettiert wird das Chaos durch die erste Rückreise-Welle nach Nordrhein-Westfalen und Skandinavien, und auch die Trabis aus der DDR werden vor allem am Samstag zum Kauf von Walkmännern und Küchenzeilen, HiFi-Nachrüstungen und Videos aufbrechen. Verkehrsinfarkt 1990, nichts geht mehr. Die Rot -Kreuz-Stellen halten Decken, Getränke, Baby-Nahrung, Sauerstoffzelte und Medikamente bereit.
ADAC-Stau-Experte Braun braucht keine prophetischen Gaben mehr, wenn er ein „schlimmes Wochenende“ heraufziehen sieht. Selbst die gängige Empfehlung, wenn möglich nachts zu fahren, bringe kaum noch Entlastung: „Die gehen ja sowieso nicht mehr von der Autobahn runter“, resigniert der Verkehrsberater. Die Stauprognose fürs Wochenende liest sich wie ein Alphabet der bundesdeutschen Autobahnen, des dichtesten Schnellstraßennetzes dieser Welt. Staus im Großraum Frankfurt, zwischen Hof und Nürnberg, auf den Autobahnen Köln- Oberhausen, Hannover-Fulda, Frankfurt -Nürnberg, Berlin-Dortmund, München-Salzburg und auf der A7 bei Chemnitz sowie am Grenzübergang Lübeck-Schlutup. Allein in Norddeutschland werden zwei Millionen Autos gen Süden rollen. Schon die Hamburger Elbbrücken sind verstopft. Dicht sind auch die Grenzübergänge nach Österreich, Jugoslawien, Ungarn, Italien und in die CSFR. Und erstmals wird auch von den Meteorologen ein heißes Wochenende vorausgesagt: blauer Himmel und 30 Grad. Da kocht nicht nur der Kühler.
Während der ADAC noch mit Ausweich-Empfehlungen hantiert und die Autofahrer zur Verschiebung des Urlaubsbeginns bis Dienstag oder Mittwoch überreden will („aber wer kann sich das schon leisten“), mag sich die Konkurrenz vom ökologisch orientierten Verkehrsclub VCD nicht mehr am sommerlichen Stau- und Straßen-Puzzle beteiligen. Wer angesichts dieser Nachrichtenlage am Samstag trotzdem in sein Auto steige, könne nicht mehr verkehrlich, sondern nur noch psychologisch -therapeutisch beraten werden, räsonniert VCD-Sprecher Harry Assenmacher sarkastisch. Er könne allenfalls noch „fundamentalistische Ratschläge“ geben: Aufs Fahrrad steigen und losfahren. Alle Stau-Prognosen und Ausweich-Empfehlungen würden nur mühsam aufrechterhalten, was eigentlich nicht mehr aufrechtzuerhalten sei. Das hochkomplizierte System, das Millionen Bundesbürger jährlich in ihre Badewanne nach Süden bringe, werde immer störanfälliger, und bei einer so heftigen Störung wie jetzt im Inntal breche der Verkehr eben zusammen. Basta.
Assenmacher sieht noch eine zweite verhängnisvolle Entwicklung: „Was Sie heute als Verkehrsweg erleben, war früher schon das Reiseziel“, jetzt liege der Urlaubsort „weit dahinter“. Tatsächlich fahren (nicht nur) die Deutschen immer längere Urlaubsstrecken, der Mittelgebirgsurlauber ist längst ein Lacher. Und auch sonst bricht der Autofahrer alle Rekorde. Auf 1.000 Einwohner der BRD - von Baby bis Omi - kommen inzwischen 490 Autos, im Jahr 1979 waren es noch 367. Die Autoflotte hat in diesem Jahr die 30-Millionen-Schallmauer durchstoßen, bis zum Jahr 2000 rechnet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) für die heutige BRD mit 34 Millionen Stinkern. Doch schon in der Vergangenheit wurden die Schätzungen von der Realität locker überholt. Der Autoboom ist ungebrochen und feiert in der DDR derzeit fröhliche Urständ. Zugleich werden die Kisten immer klobiger: Zwölf Prozent Kleinwagen, 73 Prozent Mittelklasse und 15 Prozent Oberklasse weist die Statistik aus. Der Durchschnittspreis für einen neuen Pkw lag schon 1987 bei 25.300 Mark, im vergangenen Jahr kletterte er auf 28.000 DM. Und das alles nur um im Stau zu stehen?
Die CDU weiß es genau: 15 Millionen Stunden jährlich „verbringen“ die bundesdeutschen Urlauber jährlich im Stau, dabei würden Kosten von 15 Milliarden Mark verursacht. Mit solchen Zahlen kann zwar kein Mensch etwas anfangen, aber der verkehrspolitische Sprecher der Unierten, Dirk Fischer, zieht sie als Begründung für seine Forderungen nach weiteren Straßenbauten heran. Um bei dem anwachsenden Verkehr die Engpässe zu beseitigen, müßten zusätzliche Mittel für den Straßenbau beschafft werden, diktierte Fischer gestern den Bonner Journalisten.
Doch die Akzeptanz für neue Beton-Orgien, das weiß auch Fischer, geht inzwischen gegen Null. Die Abkehr vom Auto -Wahn ist längst gesellschaftliche Mehrheitsposition. Doch ihre Exekution in Bonn läßt weiter auf sich warten. Die Bundesregierung alimentiert stattdessen mit ihren Forschungsmillionen lieber die neuen computergesteuerten Verkehrsleitsysteme, die in den Thinktanks der Autokonzerne entwickelt werden. Ob BMW, Daimler oder VW, alle setzen auf „intelligentes computergesteuertes Fahren“ und verstehen darunter notfalls auch die Enteignung des Autofahrers, dem künftig die Elektronik verstärkt ins Lenkrad greifen soll.
Vorstellbar ist etwa folgendes Szenario: Auf der Autobahn München-Salzburg rast eine Kolonne von 50 Fahrzeugen in zentimeterdichtem Abstand, Stoßstange an Stoßstange über die Autobahn wie von Geisterhand gesteuert. Sensoren und Kameras in den Autos ermitteln den Abstand, Computer berechnen die Kurvenradien, die Schaltzentrale regelt die Geschwindigkeit und stimmt sie auf die jeweilige Verkehrssituation ab. Selbst die Vollbremsung funktioniert vollautomatisch. Der Autofahrer ist in diesem System nur noch störend, er wird geduldet samt Mama und Tante Klara auf dem Rücksitz. Alles Quatsch? Das Szenario ist Mittelpunkt der High-Tech -Forschungsprogramme der Autokonzerne. In dem Gemeinschaftsprojekt „Prometheus“ (Programme for a European Traffic with high Efficiency and Safety) hat sich die gesamte Branche zusammengeschlossen, um neue, computergestützte Verkehrsleitsysteme zu entwickeln. Rund 300 Wissenschaftler sitzen an dem Projekt. Sein einziges Ziel: die Kapazität der vorhandenen Straßen besser auszunutzen und damit die drohende Krise des Automobils zu verhindern.
Mit solchen Programmen kann, so glaubt der VCD, der endgültige Verkehrsinfarkt aber bestenfalls um zwei bis drei Jahre verschoben werden. Auch die Überwachung der Verkehrsströme durch Satelliten und ähnliches mehr werde den Kollaps nur verzögern.
Nicht mal die Kirche vermag in solchen Zeiten Trost zu spenden: Für eine sofortige Begrenzung des Rechts zum Autofahren hat sich jetzt der Berliner Theologe Klaus-Peter Jörns ausgesprochen. Jörn geißelte die fortdauernde Bereitschaft zu „Blut- und Menschenopfern“. Die heutige Straßenverkehrsordnung sei noch vom Menschenbild der Aufklärung und menschlicher Willens- und Handlungsfreiheit ausgegangen. Doch über diese, so Jörns, verfüge der Mensch schon lange nicht mehr.
Manfred Kriener
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