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„Hübsche Folklore“, aber...

■ Wie Sinti und Roma mit dem Gesetz zum Schutz der Grünanlagen in Konflikt kamen / Gestern fanden sich Bezirksamtsvertreter zum Ortstermin auf der Wiese neben dem Reichstag ein

Tiergarten. Etwas angewidert stehen die Herren in Anzug und Krawatte vor der Bescherung: rechts vergammelte Matratzen und geplatzte Mülltüten, links kleine und größere Häufchen mit Cola- und Bierdosen, Essensresten. Und das mitten im Tiergarten, in Sichtweite des Reichtages. Die Inspektion der Büsche erspart man sich da lieber. „So sieht es aus, wenn ein paar hunderttausend hier ein Rockfest feiern“, konstatiert ungerührt Mario Rosenberg, Geschäftsführer der Berliner Cinti-Union. Aber deswegen ist er nicht hier. Ein ganzer Pulk aus dem Tiergartener Bezirksamt - darunter der Bürgermeister, drei Herren von der Polizei, die Gesundheitsstadträtin, der Leiter des Rechtsamtes, zwei Vertreter des Personalrats - ist angetreten, um ein ganz anderes „Problem“ in Augenschein zu nehmen: ein paar Dutzend Wohnwägen und ihre Besitzer fahrende Sinti und Roma.

Die meisten kommen aus Westdeutschland, einige Familien auch aus Frankreich. Manche verbringen hier ihren Urlaub, andere betreiben Teppichhandel, wieder andere wollen Verwandte besuchen oder treffen. Dieses Jahr sind weit mehr als noch 1989 gekommen - „explosionsartige Steigerung“, murmelt einer der Beamten vor Ort. Auf rund 150 bis 180 schätzt Rosenberg die Zahl der Familien, die die Wiesen rund um den Reichstag zu Stellplätzen gemacht haben. „Die Maueröffnung macht die Stadt attraktiver, ist doch logisch.“

Logisch schon, nur hat Bezirksbürgermeister Wolfgang Naujokat (SPD) zu den Berlingästen am Reichstag ein gespaltenes Verhältnis, „weil die sich nicht ansagen, bevor sie kommen“.

Eine Rasenfläche am Spreebogen hatte das Bezirksamt Tiergarten den Sinti und Roma vor einigen Monaten zugewiesen, einen Toilettencontainer und einige Mülltonnen dazugestellt. Soviel Kulanz bereut Naujokat inzwischen, fürchtet um das Image, den sozialen Frieden und die Grünanlagen in seinem Bezirk. „Erst der Polenmarkt, jetzt die Sinti und Roma und danach noch die geplante neue Asylstelle in der Lehrter Straße.“ Schließlich gebe es doch noch elf andere Bezirke.

Letzte Station der Grünanlagen- und Müllinspektion: die Wiese vor dem Carrillon. Wie mit einem Riesenzirkel gezogen haben die Sinti und Roma hier ihre Wohnwägen akkurat aber illegal im Kreis aufgestellt - ausgestattet mit riesigen Vorzelten. Der Platz ist blitzsauber - kein Papierschnipsel, geschweige denn eine Coladose verunzieren die Wiese. Die Frauen in ihren Kleidern und langen Röcken sehen malerisch genug aus, um dem Herrn vom Rechtsamt ein anerkennendes „Hübsche Folklore“ abzuringen. Dann allerdings nimmt ihn das Gesetz zum Schutz der Grünanlagen wieder voll in Anspruch. „500 Mark Geldbuße“, sinniert er, müßten wohl reichen, um ihnen das Parken auf dem Rasen zu verleiden. „Notfals muß man eben die Autos beschlagnahmen.“ Bei so viel „Chaos und Rechtsbruch“ auf Berliner Rasen wird der Amtsjurist zum Kämpfer für die Natur und propagiert „Umweltschutz vor Minderheitenschutz“.

Rosenberg gerät bei solchen Äußerungen dann doch aus der Fassung, zumal er das Ritual der Ortstermine und Behördengespräche leid ist. „Die machen doch erst ein Problem daraus“, sagt er und zeigt unwirsch auf das Krawattengrüppchen. Daß eine Stadt wie Berlin seit Jahren nicht in der Lage ist, fahrenden Sinti und Roma einen festen Stellplatz zu geben, will ihm nicht so ganz in den Kopf. Zumal westdeutsche Städte ohne Metropolen-Ambitionen akzeptable Grundstücke zur Verfügung gestellt haben. Eine Alternative in Berlin wäre der ehemalige Stauraum in Dreilinden. Rosenberg kennt seine deutschen MitbürgerInnen gut genug, um auch ihnen den neuen Standort schmackhaft zu machen. „Da gibt's keine Anwohner, die sich beschweren können.“ Und keine Massenspektakel mit 300.000 Menschen und zu wenig Mülltonnen.

Andrea Böhm

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