: Ungerecht für alle
■ Ab 1. September dürfen Westler im Osten wohnen
KOMMENTAR
Seit kurzem ist es offiziell, und schon liegen sich alle in den Haaren. Ab 1. September dürfen Westberliner legal nach Ost -Berlin ziehen, zunächst in die etwa 80.000 Wohnungen privater Eigentümer. Umgekehrt ist dies bereits seit 1. Juli möglich. Illegal, aber unangefochten wohnen jetzt schon Tausende von Westbürgern am Prenzlauer Berg und anderswo.
Die sozialen Probleme werden hart im Raum aufeinanderknallen, so oder so. Wer hat mehr Rechte auf die billige Wohnung im Osten? Die Familie aus Friedrichshain mit vier Kindern in drei Zimmern, seit Jahren auf der Warteliste? Oder die türkische Familie aus Tiergarten, exakt in den gleichen Verhältnissen lebend? Der Obdachlose im Westasyl, der vor Jahren noch den DDR-Paß besaß? Oder die Ostberliner Arbeiterin mit weniger als 1.000 Mark im Monat, die demnächst aus ihrem Wohnheim rausfliegt? Oder die Westberliner alleinstehende Mutter mit Sozialhilfe?
Bleiben die Mieten in Ost-Berlin zwangsweise niedrig, so ist das ungerecht und vor allem nicht finanzierbar. Sind sie für Ostler und Westler verschieden hoch, dann werden DDR -Bürger von besser situierten Westlern vom Wohnungsmarkt verdrängt. Bald sind rechtlich ohnehin alle gleich.
Und auch in West-Berlin arbeiten Leute für 430 Mark im Monat auf die Hand. Werden die Ostmieten auf „Westberliner Niveau“ hochgesetzt, wie es so schön heißt, können sich drei Viertel der Ostberliner ihre eigene Wohnung nicht mehr leisten. Das Wundermittel Wohngeld hat im Westen bislang auch keine Wohnungsprobleme gelöst.
Einerseits: Den Leuten aus der DDR schwimmen eh alle Felle davon, jetzt nehmen ihnen „die Westler“ auch noch ihre Wohnungen weg. Andererseits: Sind nicht auch Tausende von DDR-Bürgern in Westberliner Sozialwohnungen gezogen, die jetzt genau den übrigen „Ärmsten“ der vormaligen Halbstadt fehlen? Die Mauer verläuft immer weniger zwischen Ost und West - und immer mehr zwischen oben und unten. Die Bewohner beider Stadthälften zerstören nun womöglich gleichermaßen die sozialen Biotope gerade der jeweils ärmsten Bewohner in Ost und West. Was immer geschieht, es ist ungerecht irgend jemandem gegenüber. Nur: Ausweichen kann dem niemand.
Eva Schweitzer
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