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Im Garten am Rande des Abgrunds

 ■ Hölderlins „Empedokles“ und der Versuch seiner Verfilmung

Von Wilhelm Schmid

Ein Werk, an dem man eigentlich nur scheitern kann: Hölderlins Empedokles. Hölderlin selbst unternahm drei Anläufe, mit seinem Stoff fertigzuwerden; er scheiterte dreimal. Im Sommer 1797 entstand der sogenannte Frankfurter Plan zum geplanten Drama Tod des Empedokles; im Spätsommer berichtet Hölderlin an seinen Bruder, er habe den detaillierten Plan zu einem Trauerspiel gemacht, dessen Stoff ihn hinreiße. Der hinreißende Stoff findet sich zunächst im zweiten Band des Hyperion: „Da fiel der große Sicilianer mir ein, der einst des Stundenzählens satt, vertraut mit der Seele der Welt, in seiner kühnen Lebenslust sich da hinabwarf in die herrlichen Flammen, denn der kalte Dichter hätte müssen am Feuer sich wärmen, sagt‘ ein Spötter ihm nach.“

Wie sehr sich Hyperion und Empedokles überschneiden und vor welchem Hintergrund sie zu sehen sind, das zeigt sich an der Sehnsucht nach dem „großen Akkord“, der in beiden Werken auftaucht. Bei der Trennung von Diotima erinnert Hyperion sich an die Zeit, da „alle Töne in uns erwachten zu des Lebens vollen Akkorden, göttliche Natur!“ Und Empedokles wiederum will leben „nur im Akkord mit allem Lebendigen„; er leidet, weil die Welt des Menschen nicht zuläßt, so zu leben, wie er, Empedokles, es will, nämlich „frei und ausgebreitet, wie ein Gott“. Der verlorene volle Akkord geht mit der Neubegründung des Tragischen einher.

Die unmittelbaren Lebensumstände, mit denen dies bei Hölderlin zusammentrifft, sind charakterisiert durch die Trennung von der 27jährigen Susette Gontard, der Ehefrau des Frankfurter Bankiers Jakob Friedrich Gontard, in dessen Haus Hölderlin die Stelle des Hofmeisters innehatte. Sie war seine „Diotima“. Wie innig sich die Verknüpfung von Lebenserfahrung und Kunstwerk gestaltet, ist von Hölderlin selbst erinnert in dem Homburger Epigramm An sich selbst (Pros heauton): „Lern‘ im Leben die Kunst, im Kunstwerk lerne das Leben.“ Zur privaten Erfahrung kommt die politische hinzu: Immerhin befanden sich Hölderlin und Susette auf einer gemeinsamen Reise 1796 auf der Flucht vor französischen Truppen. Hölderlin, ein begeisterter Revolutionär, bezeichnete 1799 Napoleon als „eine Art von Dictator“.

Häuslicher Zwist, gesellschaftliche Mißachtung, politische Enttäuschung; all diese Momente zwingen schließlich noch ein weiteres herbei: die erneute Auseinandersetzung mit dem alten, 1795 aus Jena (das heißt von Fichte) mitgebrachten philosophischen Problem, dem Widerstreit von Subjekt und Objekt, Selbst und Welt, Mensch und Natur. 1795 war Hölderlin schon so angezogen wie abgestoßen gewesen von Fichtes Subjektivismus, dem Denken des absoluten Ich und der Verkündung der absoluten Freiheit. Für ihn war das soviel wie „die Welt um uns zu einer Wüste machen“. Am 2.November 1797 schrieb er an seinen Bruder von dem „Nichts, das, wie ein Abgrund, um uns her uns angähnt“.

Mit diesem Bündel an Motiven hat zu rechnen, wer sich an das daraus hervorgegangene Werk wagt. Das macht den Umgang damit so schwierig: Die entscheidende dramatische Bewegung hat außerhalb des Dramas stattgefunden, und die verschiedenen Motive überlagern sich scheinbar unzusammenhängend: Es gibt die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen ursprünglichem Götterglauben und Funktionärsreligion (ein Problem, das Hölderlin vom Theologiestudium in Tübingen mitnahm), zwischen der Revolution und den Kräften, die sie revidieren. Jede Realisierung des Dramas bzw. seiner Fragmente muß sich für einen Interpretationsstrang entscheiden - und ruiniert damit die schillernde Vieldeutigkeit, in der Empedokles sich bewegt.

Der Weg, den Jean-Marie Straub und Daniele Huillet für ihren Versuch zur Verfilmung wählten, ist denkbar einfach und ungemein wirkungsvoll: Sie verzichten darauf, Hölderlins Sprache mit Bedeutung aufzuladen, halten die Frage der Interpretation so weit wie möglich heraus - und gewinnen damit eine vielseitige, kristallene Klarheit der Empedokles -Figur. Alles, was zu sagen ist, ist auf der Oberfläche des Zelluloids; es gibt kein Subjekt „dahinter“.

„Der Film“ wurde 1986 in Sizilien gedreht und realisierte den ersten Entwurf des Dramas unter dem Titel: Der Tod des Empedokles. Der Schauplatz, der Hölderlin zufolge teils Agrigent, die historische Heimat des Empedokles, teils der Ätna sein sollte, war im einen Fall das Schloß Donnafugata im Süden Siziliens nahe dem Meer, im anderen Fall ein Birkenhain am Nordostabhang des Ätna bei Linguaglossa.

Kenner empfahlen den beiden, den ganzen Film in der sizilianischen Sonne mit Blende 16 abzudrehen. Es kam anders. Das Wetter war unbeständig, und so kam es zu den vier verschiedenen Fassungen des Films, die sich durch Differenzen des Lichts unterscheiden, von anderen Kleinigkeiten ganz abgesehen. Die erste Fassung, zugleich diejenige, mit der der Film 1987 auf der Berlinale uraufgeführt wurde, ist bereits als „Eidechsenfassung“ bekanntgeworden, denn eine Eidechse rennt in der Sklavenszene mitten durchs Bild, und da ein geheiligtes Prinzip von Straub/Huillet darin besteht, den Zufall sprechen zu lassen, avancierte das Tierchen unversehens zum flüchtigen Laiendarsteller. Es ist die, jedenfalls was den Ton angeht, brüchigste Fassung, ebenso brüchig wie Hölderlins Fragmente, ebenso charakteristisch eigenwillig.

Durch das Spiel mit den „Fassungen“ ist es Straub/Huillet jedenfalls geglückt, für völlige Verwirrung darüber zu sorgen, welches der „Originale“ man gerade vor Augen hat; die Suche nach dem „Original“ wird völlig ad absurdum geführt. In der zweiten, der sogenannten „Pariser Fassung“, flüstert in den Mikrophonen der Wind. Die Farben, zunächst stumpf unter bedecktem Himmel, blühen unter der Sonne jäh auf, und was nun erstmals auffällt, ist die traumhaft schöne, lange Einstellung mit der Panthea im Profil am Schluß ihrer Rede; eine lange Minute des Schweigens, bevor die opulenten Bilder aus den verschiedensten Nuancen des Grüns am Ätna erscheinen. Die völlig unprätentiöse Schlichtheit des Empedokles, die seine Erhabenheit ausmacht, als er den Satz in den Raum stellt: „Diß ist die Zeit der Könige nicht mehr.“

Es ist allein die Verfremdung, die diese unerhörte Sprache glaubwürdig macht. Die Darsteller, zum größeren Teil Laien, bewegen sich kaum; sie sagen ihren Text und skandieren im Übermaß den Rhythmus der Verse; die Situation ist statisch. Eine einsame Violine eröffnet den Film. Vor dem Hintergrund der sizilianischen Landschaft kommen Panthea, die Schülerin und Verehrerin des Empedokles, und Rhea, die aus Athen zu Gast ist, ins Bild (Rhea heißt bei Hölderlin auch „Delia“, wohl aus metrischen Gründen: „Delia“ ist dreisilbig). Die Augen, gewöhnt an moderne Fernsehästhetik, laben sich an der Ruhe dieser Bilder. „Versucht nicht nur zu hören“, hatte Straub gesagt - „schaut ganz genau“. Keine Kamerafahrten, kein Zoom, kein Schwenk, keine Schnitte alle zwei Sekunden Bilder von extremer Sinnlichkeit, die Straub zu Recht eine „Wonne“ nennt. Die Sinnorgel des Kinos wird hier voll aufgedreht; „sinnvoll“ im vollsten Sinne des Wortes.

Ein Zitronenfalter huscht immer wieder durchs Bild. Man könnte diese dritte Fassung die sonnigste von allen, die „Schmetterlingsfassung“ nennen. Die Sprache spricht, nicht der Mensch; sie spricht aus dem Off. Der Blick wandert über die verdorrten Grashalme, bevor Empedokles „das heit're Licht hier oben“ rühmt. Empedokles ist zunächst der große Abwesende, über den die anderen sprechen: Kritias, der politische Machthaber in Agrigent, und Hermokrates, der Priester, der mit der rechten großen Zehe den Takt des Metrums skandiert. Dann plötzlich steht Empedokles allein im Bild; er hebt an zu einer Hymne an die Natur, die er ohne übertriebenes Pathos spricht: „O innige Natur! Ich habe dich/Vor Augen, kennest du den Freund noch/Den Hochgeliebten, kennest du mich nimmer?“ Man sieht Ameisen über die Nadeln am Boden stolpern. „Verachtet hab ich dich und mich allein/Zum Herrn gesetzt, ein übermütiger/Barbar!“ Es sind diese letzteren Verse, an denen die Differenz zu Sattlers Textausgabe greifbar wird: Straub/Huillet folgen hier der Stuttgarter Ausgabe Beissners; Sattler sieht diese Verse als von Hölderlin selbst getilgt an.

„O Empedokles“, sagt Pausanias, der Jüngling, und setzt die Betonung auf die dritte Silbe statt auf die zweite, ganz der Metrik Hölderlins gemäß. Empedokles führt die Auseinandersetzung mit dem Priester („Ich kenne dich und deine schlimme Zunft“), dem Machthaber Kritias und den wankelmütigen Agrigentinern, die ihn zunächst als Gott verehren, dann zum König haben wollen und ihn schließlich zum Teufel jagen: „O ihr Rasenden!“ Dann sucht er das Weite; die Kontraste verschärfen sich in der neuen Umgebung am Ätna, auch der Kontrast zwischen den statischen Figuren und der Bewegung in der Natur. Es ist der Garten am Rande des Abgrunds, so wie Hölderlin ihn sich vorstellte (er kannte die Landschaft des Ätna aus zeitgenössischen Reisebeschreibungen).

Man ist hier der Malerei sehr nahe. Wie einem Impressionisten gelingt es Straub, „das Licht spüren zu lassen“, wie er sagt. Nicht von ungefähr montierten er und Daniele Huillet zwei Ausschnitte aus dem Empedokles-Film in den „Film“ (es ist eher ein Diavortrag) über Cezanne, und zwar zum einen die Hymne an die Natur, „O himmlisches Licht“, gefolgt von einer Aufnahme des Montagne Ste. Victoire und Auszügen aus den Briefen Cezannes; zum anderen die Hymne auf die Verwandlung und Verjüngung mit dem Blick zum Ätna, also die zweite Hymne an die Natur. Schnitt. Blick auf ein pulpöses Orangen-Stilleben Cezannes; aus dem Off die Stimme seiner Briefe: „Ich will mich in der Natur verlieren, mit ihr wieder aufsprießen.“ Was Farbe ist, das zeigt plötzlich, negativ, die blanke weiße Leinwand.

Es gibt noch eine vierte Fassung des Empedokles-Films, in Rom hergestellt. Man kann sie als die „Grillenfassung“ identifizieren: Beachtlich zirpen die Grillen, als Empedokles sich von seinen Sklaven verabschiedet, die auf den Steinstufen vor seinem Haus lagern. Eine dunkle, drohende Gewitterwolke verhüllt den Ätna. Eine andere, gefährlichere Wolke ist unsichtbar: die des radioaktiven Fallouts von Tschernobyl, die seit dem 26. April 1986 über Europa zog.

Zwei Jahre nach diesem Unternehmen wandten sich Straub/Huillet erneut den Empedokles-Fragmenten Hölderlins zu und wählten nach dem ersten Entwurf nun den dritten Entwurf zur Verfilmung aus. Keine Frage, daß es davon wiederum vier Fassungen gibt, jede für sich ein „Original“.

Dem dritten Entwurf des Dramas ging bei Hölderlin die theoretische Erörterung Grund zum Empedokles voraus, die im Spätsommer oder Herbst 1799 in Homburg entstand. Der unmittelbare Anlaß zu dieser Reflexion über die Konzeption des Tragischen war das Scheitern des zweiten Entwurfs des Dramas. Die gesamte Konzeption wurde nun sehr stark auf die Entgegensetzung von Mensch und Natur zugespitzt oder, in Hölderlins Begriffen, die er hier zum ersten Mal entfaltete, auf den Gegensatz des „Organischen“ und „Aorgischen“. Die aorgische Natur ist gegenüber dem organischen Menschen das Umfassende und Grundlegende, das Hölderlin vom Denken seiner Zeit hintergangen sieht: Der Sündenfall der Moderne?

Der „schwarzen Sünde“ wird Empedokles im dritten Entwurf des Dramas vom alten Seher Manes bezichtigt; diese Sünde will er durch den Abgang in den Abgrund sühnen, um den „Grund“ des Aorgischen aufzuweisen, das allem Organischen zugrunde liegt. Schwarze Sünde nannten Straub/Huillet ihren Film, der mit Standbildern zweier Bronzen von Ernst Barlach einsetzt: Mutter Erde und Der Rächer; dazu hört man, wogend wie Meeresrauschen oder wie Verkehrslärm, das Grollen des Ätna, der in regelmäßigen Abständen plötzlich wütend aufbrüllt. Dann geht in der ersten Fassung eine Wolke über den auf vulkanischem Boden liegenden, schlummernden Empedokles hinweg, verändert für zehn Sekunden völlig die Szene. Der Ätna raucht. Ein Vogel schwirrt im Hintergrund behende wie ein Kolibri am Baum herum. Dann steht Empedokles hoch aufgerichtet da, wie einer der stolzen Bäume, die in der Höhe mit Wind und Wetter leben. Die schlohweißen Haare entschlossen zurückgestrichen, zieht er einen Bannkreis aus Blicken um sich herum. Stumm steht ihm gegenüber, grau vor blauem Himmel, die Kuppe des Ätna. „Kennst du die Stille rings? Kennst du das Schweigen/Des schlummerlosen Gotts? erwart‘ ihn hier!“

Die zweite Fassung ist zugleich die Hörspielfassung, die es von Schwarze Sünde gibt und mit der der Film zum Teil finanziert wurde. Es ist die Fassung, die einen leichten Gelbstich hat bzw. zu hell kopiert wurde, wie es in den Kopierwerken, die nur noch Fließbandproduktionen liefern, vorkommen kann. Die dritte Fassung wurde mit den Studenten der Berliner Film- und Fernsehakademie geschnitten. Ein Schmetterling umgaukelt Empedokles und Pausanias. Empedokles aber sprüht Zornesblitze.

Der Tod des Empedokles erinnert sehr stark an den Tod des Sokrates, den Hölderlin ursprünglich dramatisch zu gestalten dachte: Es ist eine Situation wie im Dialog „Phaidon“, wo Sokrates, auf den Tod wartend, das Gemälde seiner Philosophie entwirft. Schließlich erscheint anstelle des verschwundenen Empedokles der „Chor“, Daniele Huillet allein, das Kinn lange auf die spitzen Finger gestützt, um die letzten Sätze zu sagen. „Aber wo ist er?/Daß er beschwöre den lebendigen Geist.“ Während ihre Rechte auf der vulkanischen Erde ruht, hört man erneut das Brüllen aus dem Innern des Vulkans, und die Musik von Beethoven, die dem 20. Jahrhundert so nahe ist: „Der schwer gefaßte Entschluß“. Die vierte Fassung des Films verzichtet auf die Nennung von Titel und Namen und läuft anonym: Die Realisierung einer alten Lieblingsvorstellung Jean-Marie Straubs, der es mit Daniele Huillet geschafft hat, Hölderlins Empedokles in eine adäquate filmische Form zu bringen.

„Empedokles“ von Hölderlin gibt es als Taschenbuchausgabe, herausgegeben von D.E. Sattler, bei Luchterhand (Sämtliche Werke, Kritische Textausgabe, Bände 12 und 13, DM 24,80 und 19,80).

Verleih der Filmkopien von „Tod des Empedokles“ (alle Fassungen) und „Schwarze Sünde“ (erste Fassung): Edition Manfred Salzgeber im Sputnik-Kino Berlin.

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