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Der Countdown für den Giftgasabzug läuft

■ Giftgasschiffe in Nordenham eigetroffen / Jetzt bestätigen sie es: Midgard-Hafen für Munitionsumschlag der US-Army die Nummer eins im Norden / Für Niedersachsens Innenminister läuft „nach menschlichem Ermessen“ alles reibungslos

Von Holger Bruns-Kösters

Nordenham (taz) - Donnerstag, 10 Uhr 45. Langsam zieht der Schlepper „Mars“ ein mausgraues Containerschiff an die Pier. Die „Flickertale State“, das erste der beiden für den Abtransport der US-Giftgasmunition bestimmten Schiffe macht im Midgard-Hafen fest. Eine halbe Stunde später legt das baugleiche Schwesterschiff „Gopher State“ an. Der Abtransport der 102.000 Giftgasgranaten aus der Bundesrepublik zum Johnston Atoll im Pazifik läuft.

Aus 200 Meter Entfernung beobachten der niedersäsiche Innenminister Gerhard Glogowski (SPD) und ein gutes Dutzend Journalisten das Anlegemanöver. Glogowski hat zum Ortstermin an Bord eines Bootes der Bremer Wasserschutzpolizei geladen, um vor neuer Kulisse noch einmal die alte Botschaft loszuwerden: „Wir haben alles Erdenkliche getan, um alle auftretenden Eventualitäten berücksichtigen zu können. Nach menschlichem Ermessen wird es keine Gefährdung der Bevölkerung geben.“ Und: „Für die umgehende Warnung für den unwahrscheinlichen Fall des Kampfstoffaustritts ist Vorsorge getragen.“ In einem solchen „unwahrscheinlichen Fall soll die Bevölkerung von den Zügen aus per Lautsprecher gewarnt werden. Glogowskis Rat: Im Haus bleiben, die vom Bahndamm abgewandten Räume aufsuchen, Fenster abdichten. Personen, die sich in der zwei Kilometer großen Sperrzone im Freien aufhalten, werden von Bundeswehr- oder US-Sanitätstruppen geborgen und außerhalb der Sicherheitszone von zivilen Sanitätern übernommen.

Doch eigentlich, so wird Glogowski nicht müde immer wieder in die Kameras zu sagen, kann nichts passieren, nach „menschlichem Ermessen“ eben. Seine Begründung: Die Giftgasgranaten seien Artilleriegeschosse, die, um ihre volle Wirkung zu entfalten, gezündet werden müßten. Schon in der Metallummantelung seien sie relativ sicher. Erst recht in den verpackten Containern. Das Problem ist für Glogowski dann auch weniger der Transport als der „terroristische Anschlag“. Um hier möglichst viele Eventualitäten auszuschließen, plant die niedersächsische Polizeiführung seit März, welcher Beamte zu welcher Zeit an welchem Platz zu stehen und was er dort zu tun hat. Insgesamt 4.500 Beamte werden vom 12. bis zum 19. September im Einsatz sein, um die Bahnstrecke abzuschirmen. Und der Hafen in Nordenham wird auf der Landseite von 600 Beamten des Bundesgrenzschutzes abgeschirmt. Auf der Weser werden Boote der Wasserschutzpolizei patroullieren, um vorbeifahrende Schiffe am Eindringen in die 130-Meter-Sicherheitszone zu hindern.

Im Midgard-Hafen, in dem sich ab nächsten Donnerstag etwa 1.000 Menschen aufhalten werden, lümmeln derweil nur ein paar GIs. Daß die Amerikaner ausgerechnet auf den Nordenhamer Hafen kamen, ist kein Zufall. Inzwischen plaudert auch die US-Army ungeniert aus, was jahrelang bestritten wurde. Die Granaten kamen auch über diesen einzigen Privathafen an der Nordseeküste ins Land - und zwar zwischen 1958 und 1967. Und auch sonst haben die Amerikaner mit dem von der Öffentlichkeit abgeschotteten Hafen nur die besten Erfahrungen gemacht. Seit Jahrzehnten rollt der Munitionsnachschub für die US-Truppen in Europa im wesentlichen über Midgard. Eine Tatsache, die Nordenham während der Hochzeiten der Friedensbewegung zahlreiche Demonstrationen bescherte. Die Arbeiter im Hafen sind den Umgang mit tödlicher Fracht denn auch gewohnt. Nur zwei von 300 wollen am Transport nicht teilnehmen.

Doch zur Zeit, eine Woche vor Eintreffen des Giftgases, herrscht in Nordenham die gewohnte Ruhe. Die Bevölkerung ist das Leben in der Nähe der Gefahr gewohnt, erklärt sich ein Lokalredakteur das Ausbleiben von beunruhigten Anrufen oder empörten Leserbriefen. Tatsächlich ist die 30.000-Einwohner -Stadt an der Wesermündung ein Brennpunkt von Problem -Industrien. Von hier aus schickte Kronos-Titan seine Dünnsäureschiffe in die Nordsee. Eine Bleihütte der Preussag produziert Giftiges und bis vor wenigen Jahren war am Rand der Stadt die größte Asbestverladeanlage. Einzig die Grünen versuchten in den vergangenen Wochen den Giftgasumschlag zu problematisieren. Doch für ihren Antrag im Rat der Stadt, jedem Bürger, der für die sieben Tage im September das Weite suchen will, eine Evakuierungspauschale von 200 Mark zu zahlen, ernteten sie Kopfschütteln.

Spätestens am 20. September sollen „Flickertail State“ und „Gopher State“ die Bundesrepublik verlassen. Ein „glücklicher Tag für Deutschland“ wie Innenminister Glogowski sagt. Doch wenn alles glatt geht, können die Schiffe schon einen Tag früher auslaufen. Denn die Container mit der tödlichen Fracht, die jeweils morgens zwischen 5.00 und 6.00 Uhr eintreffen sollen, werden dann bis 14.00 Uhr verladen sein. Und der letzte Verladetag ist der 19. Septmeber. Ein Zwischenlager in Nordenham, das verspricht Glogowski, soll auf gar keinen Fall eingerichtet werden.

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