: FÜR FREMDE UNERWÜNSCHT
■ Innsbruck und die Diktatur der Postkartenidylle
Innsbruck und die Diktatur der Postkartenidylle
VON MARC SCRITTI
Jeder Reisende kennt sie: die Städte der Zwischenstopps. Athen ist zum Beispiel solch eine Stadt: die Züge enden hier, und wer weiter will, muß meist im Hafen von Piräus auf das Schiff umsteigen. Dabei kommt man selten drum herum, einen Tag oder eine Nacht in der Stadt zu verbringen.
Mit dem italienischen Brindisi verhält es sich für Griechenlandreisende genauso, aber auch das österreichische Innsbrucki zwingt einen oftmals zu einem Zwischenstopp: hier beginnt die Brenner-Autobahn, und auf dem langen Weg von Norden kommend landet man meist am späten Abend diesseits der Alpen, so daß es pragmatischen Menschen vernünftiger erscheint, eine Nacht in Hotel oder Jugendherberge zu verbringen, als sich morgens um drei ohne Anschluß nach Italien und womöglich noch im Schneetreiben auf dem Brennerpaß den Arsch abzufrieren.
Aber auch wenn man von Süden kommt, kann es einen schon mal nach Innsbruck verschlagen. Vielleicht steht einem nach ausgiebiger südländischer Spaghettikost der Sinn nach österreichischen Semmelknödeln mit Sauerkraut. Oder man will einfach die meist unvermeidliche Wartezeit auf dem Hauptbahnhof von München (auch so eine Stadt der Zwischenstopps) verkürzen, weil man Burger King, das Hertie -Kaufhaus, den Stachus und die Fußgängerzonen schon auswendig kennt. Bei mir ist beides der Fall, als ich an jenem sommerlichen Sonntag nachmittag mit knurrendem Magen dem D-Zug aus Bologna entsteige und Innsbrucker Boden betrete. Denn nach ausgiebigen strategischen Überlegungen während der Zugfahrt mußte ich feststellen, daß ich a) hungrig war, b) keine Lust hatte, drei Stunden auf dem Münchner Hauptbahnhof auf meinen Anschlußzug zu warten und daß c) Kufstein mir als Stopp-Alternative einen Schauer über den Rücken jagte (von Rosenheim ganz zu schweigen).
Also erinnerte ich mich an Innsbruck, hatte ich hier doch schon mal eine Nacht verbracht und in meinem Hinterkopf Bilder von wuchtigen, festungsähnlichen Gemäuern und alten, klapprigen Straßenbahnen. (Die grauen Hochhäuser an den Berghängen und die Autobahnen quer durchs Tal verdrängte ich vorerst.)
Zugfahrten durch die Alpen genieße ich immer als besonderes Erlebnis, sommers wie winters, und auch an diesem Sonntag muß ich mir eingestehen, daß diese Berge einfach grandios sind.
Die Sonne knallt vom Himmel, und die Stadt ist wie ein Kessel von den leicht mit Schnee bedeckten, strahlend weißen Gipfeln umrahmt, die, so scheint es, die Sonnenstrahlung nochmals verdoppeln.
Es ist beeindruckend, dieses Bild, und doch vom ersten Moment an auch irgendwie unwirklich. Man hat das Gefühl, das Bergpanorama sei nur eine aufgestellte Kulisse.
Die Berge sind so nah, stehen einfach da rum, fast greifbar. Man guckt über die flachen Hausdächer hinweg, und plötzlich -zack!- geht es eine beinahe senkrechte Wand empor, die alles überragt.
Wie ein großes, nach oben offenes Zimmer wirkt diese Stadt, der blaue Himmel als Decke, die Häuser und Menschen als Spielzeug, das auf dem Boden herumliegt. Man kann sich, wenn man nach oben guckt, gar nicht vorstellen, daß da auch Täler sind, weite Täler, die zwischen den Berghängen den Weg hinausweisen...
Gezielten Schrittes begebe ich mich in Richtung Bahnhofsrestaurant, welches im Gegensatz zu bundesdeutschen Bahnhofsgaststätten (entweder überteuertes InterCity -Restaurant oder abgefuckte Spelunke) einen angenehmen Eindruck macht und sogar einige Vollwertgerichte auf der Speisekarte zu bieten hat. Es schmeckt.
Danach versuche ich die Wartezeit bis zur Weiterfahrt - wie schon so oft - durch einen Stadtrundgang zu überbrücken. Gleich an den Bahnhof schließt sich die restaurierte Altstadt an. Es herrscht sonntägliche Stille (um es nicht Leblosigkeit zu nennen), die Bevölkerung geht dem üblichen Sonntagsvergnügen nach: man bummelt paar- und familienweise an den Schaufenstern der geschlossenen Geschäfte vorüber. Und einige Leute sind sich auch nicht zu schade, zu diesem festlichen Ereignis Trachtenkostüm und Lederhose anzulegen. Es ist ein bißchen wie im Komödienstadl.
Und wie im Fernsehen ist auch die Stadt für die Touristen herausgeputzt: die Straßen sind ordentlich gepflastert, die wuchtigen Häuser schön angemalt, historische Idylle auf den ersten Blick. Man riecht es förmlich, das Falsche, das Trügerische, die Kulisse, das Zurschaugestellte.
Solche Orte nähern sich im Laufe der Zeit immer stärker ihrem Prospektideal, ihrer eigenen Postkartenromantik an, bis sie eines Tages jedwede Identität, jedwedes Lebensgefühl und jedes Selbstbewußtsein verloren haben, sie nur noch ein Abklatsch ihrer selbst sind, und man tatsächlich das Original von der beschönigenden Blickperspektive der Postkarte nicht mehr unterscheiden kann. Sie erstarren und sterben ab, sind für alle Zeiten als Touristenidyll konserviert.
Früher hat man Ansichtskarten nachträglich koloriert, heute koloriert man die Wirklichkeit. (Bravo! d.S.)
Ich spaziere durch diese ehrfürchtigen, alten Gassen, die sich früher oder später unausweichlich in Fußgängerzonen und Einkaufspassagen verwandeln, vorbei am berühmten „Goldenen Dächerl“, und es erscheint mir vollkommen witzlos, irgendetwas davon beschreiben zu wollen. Die Prospekte vom österreichischen Fremdenverkehrsamt sagen schon alles, es ist genauso wie auf den Bildern.
Während ich mich durch amerikanische und deutsche Touristenschwärme und an Postkartenständern vorbeidränge, frage ich mich, warum die Menschheit immer mehr versucht, alles zu konservieren, zu ordnen, zu erfassen, zu erhalten. Warum läßt man die Dinge nicht einfach am Leben, überläßt sie sich selbst? Merkt denn niemand, daß mit jedem neuen Verputz, mit jeder neuen Politur die Poren versiegelt werden, daß wir den Dingen die Luft zum Atmen nehmen, daß wir ihnen die Lebensadern abschneiden?
Es schmerzt mich richtig, wenn ich durch Städte wie Innsbruck laufe: sie sind tot, sie erzählen keine Geschichten, und sie haben folglich keine Geschichte. Sie sind mit einem Male zeitlos, weder Vergangenheit noch Gegenwart, die Erinnerung ist ausgelöscht, im Glassarg versiegelt. Die Menschen, die darin leben, werden genauso gesichtslos...
Wenn man aus dem Süden kommt, fällt einem das besonders deutlich auf. Ich schleppe mein Gepäck durch diese schnuckligen Gässchen und Sträßchen und finde nicht eine Stelle, wo ich mich einen Moment ausruhen könnte. Überall nur Häuser, dazwischen Mauern und Zäune. Auf eine Treppe oder den Gehweg wage ich mich erst gar nicht zu setzten, und selbst kleinste Rasenflächen sind gehegt und gepflegt wie Teppichböden, sie sagen einem deutlich: Nicht betreten!
Alles sagt dem Fremden hier: Bitte draußenbleiben! Sogar ein schön verwildertes Baustellengrundstück ist meterhoch umzäunt und mit Ketten verriegelt, damit kein Unbefugter es betreten kann, damit nur ja niemand vom vorgegebenen, schön gepflasterten Weg abweicht. Da ist die Straße, da ist der Gehweg, da könnt ihr euch tummeln, ihr Menschen, alles andere ist Privateigentum.
Österreich-Deutschland - das ist die Diktatur der Ordnung, die totale Kontrolle durch Planung und Wohlstand. Kein Wunder, daß alle paranoid werden und sich vier Schlösser vor die Tür hängen.
Müde erreiche ich schließlich wieder den Bahnhof, den einzigen Fluchtpunkt in dieser Stadt. Wie gut, daß es Bahnhöfe gibt! Dort kann man sich immerhin niederlassen, wird man als Wartender geduldet, kann notfalls sogar schlafen, wenn man eine Fahrkarte in der Tasche hat. Ob diese Großzügigkeit wohl nur daher kommt, weil man in aller Regel weiterfährt, anstatt zu bleiben?
Mit unguten Gefühlen steige ich in den EuroCity „Michelangelo“ in Richtung München, immer weiter nach Norden...
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