: Die moderne Verspätung
■ »Unerwartete Begegnung« mit der lettischen Avantgarde in der Kunsthalle
Die Ausstellung »Unerwartete Begegnung«, die die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst bewußt aus der Perspektive westlicher Kunstgeschichte zusammengestellt hat, versucht nun Lettlands Stellung in der europäischen Kulturgeschichte zu rekonstruieren. Daß dieser kunsthistorische Nachtrag gerade in Berlin geschrieben wird, findet seine Rechtfertigung in den Kontakten und Gemeinsamkeiten der Vergangenheit. Mit einem halbem Jahrhundert Verspätung trifft die Kunst der lettischen Avantgarde, zwischen 1910 und 1935 entstanden, in Berlin ein.
Einst verband die beiden Städte der Schnellzug Riga—Berlin, mit dem sich oft die Künstler aus Riga auf Studienreisen nach Berlin und weiter nach Dresden, Paris oder Italien begaben. Die »Rigaer Künstlergruppe« plante mit der Berliner Novembergruppe gemeinsame Ausstellungen, und selbst eine lettische Kunstzeitschrift erschien einst hier. Trotzdem fehlt in der Kunstgeschichte der klassischen Moderne zwischen Moskau und Paris, zwischen Kubismus und Konstruktivismus, Expressionismus und Neuer Sachlichkeit bisher das Kapitel über die Kunst Lettlands.
Entstehung und Vergessen der lettischen Kunst erhalten vor dem Hintergrund der politischen Geschichte Lettlands ihre besondere Bedeutung. In einer Phase der nationalen und kulturellen Identitätsfindung bemühte sich die lettische Republik, die sich gegen den Zugriff der jungen Sowjetmacht verteidigen, gegen weißrussische und deutsche Interessen abgrenzen mußte, das Image eines bäuerlichen und geschichtslosen Volkes mit bloß folkloristischer Kultur abzustreifen. Riga entwickelte sich zur Großstadt. Die Anfälligkeit und Instabilität der versuchten Demokratie in dem vom Ersten Weltkrieg zerstörten Land bezeugen die 13 Regierungswechsel zwischen 1920 und 1934. Im Austausch mit den westlichen Kunstzentren entwickelten die lettischen Künstler in dieser Zeit ihre gemäßigte und oft dem Dekorativen verbundene Variante der europäischen Avantgarde.
Ab 1940 verdrängte die stalinistische sowjetische Kulturpolitik die junge Kunst Lettlands in die Depots der Museen. Nie wurden die Bilder ins Ausland ausgeliehen, selten in den letzten Jahrzehnten in einzelnen Retrospektiven gezeigt. Daß diese Epoche nun überhaupt so vielfältig dokumentiert werden kann, geht auf Vilhelms Purvitis zurück, Rektor der Kunstakademie und Direktor des Kunstmuseums von Riga bis 1940, der die Werke der lettischen Künstler für das Museum ankaufte.
Die Rigaer Künstlergruppe
Ernst und still beginnt die Ausstellung mit Bildern von Jebkas Kazaks (1895-1920) und Jazpes Grosvalds (1891-1920), Mitgliedern der »Rigaer Künstlergruppe«, die als Begründer eines modernen lettischen Stils gelten. Beide reagieren auf den Ersten Weltkrieg mit einer bedrängenden und appellativen Inhaltlichkeit. Eine Gruppe von Flüchtlingen, zusammengesetzt aus drei Generationen, baut Kazaks pyramidal auf, läßt die Züge des Leidens in holzschnitthafter Kantigkeit erstarren. Mit der Mutter, die auf der Flucht ihr Kind stillt, benutzt er eine Formulierung der christlichen Ikonographie. Auch seine Drei Mütterchen, die abwehrend und verzweifelt die gefalteten Hände heben, werden als Opfer des Krieges begriffen. Grosvalds malt plakativ vor dem Hintergrund einer brennenden Stadt heimatlose Flüchtlinge, die er durch den symmetrischen Bildaufbau und beschwörende Gesten zu einer kultischen Gruppe zusammenschweißt. Diese bedrückende narrative Thematik verstellt zunächst den Blick auf ihre Malweise, die nach Vereinfachung der Flächen und Formen sucht. Erst dort, wo der Inhalt zurücktritt, entsteht Raum für das formale Experiment. Kazaks setzt seine Damen am Strand aus Kugeln — kleine für den Kopf, große für den Hintern — und Zylindern zusammen. Doch viel mehr als aus ihren Bildern läßt sich aus dem Vorwort der ersten Ausstellung der »Rigaer Künstlergruppe« von 1920 ablesen, gegen welche Traditionen sie sich wendeten: »Uns befriedigt nicht mehr die einfache Wiedergabe der realen Natur, die Gustave Courbet Mitte des 19. Jahrhunderts mit so großer Geste einleitete, die jedoch allmächlich zur Verleugnung der Persönlichkeit des Künstlers führte. Ebenso befriedigt uns jetzt nicht mehr der Impressionismus des großen Edouard Manet, der hinter der hellen, sonnigen Momentaufnahme der Natur letztlich die Künstlerpersönlichkeit verschwinden läßt. Aber gerade auf die Offenbarung der Persönlichkeit läuft gegenwärtig unser ganzes Streben hinaus. Nicht die Natur, die objektive äußere Natur wollen wir jetzt in unseren Arbeiten wiedergeben, wie dies noch am Anfang unseres künstlerischen Weges der Fall war, sondern unsere individuelle Natur, unser geistiges Wesen.« Das neue Bewußtsein von der Autonomie des Künstlers schimmert in den Selbstporträts Kazaks' durch, in denen er sich als Dandy im Anzug (1916) und als Maler mit rotem Halstuch (1918), der sein Gegenüber skeptisch ins Auge faßt, präsentiert.
»Russische Sezession«
Das Studium der Welt der Farben und Linien forderte der Verbalradikalist V. Matvejs, der als Theoretiker nicht nur in der lettischen, sondern auch in der russischen Avantgarde eine wichtige Stellung einnimmt, in seiner Deklaration Russische Sezession von 1910: »Wir malen nicht die Natur, sondern nur unsere Haltung zur Natur. [...] Wir entnehmen der Natur sozusagen das Notwendigste — ihr Radium — und entkleiden sie des Materialismus. Die Natur regt uns zu einer Farbmelodie an, zu einem Problem, und die Anregung, bewußt und ehrlich wiedergegeben, mag geringe Ähnlichkeit mit der rauhen Unmittelbarkeit aufweisen. [...] Wir hassen das Kopieren der Natur, diesen Bankrott des Geistes und der Gefühle. [...] Wir vergewaltigen die Natur, weil sich in Vergewaltigung und Anomalie viel Schönheit findet.« Dem Pathos und dem destruktiven Tenor des Textes gegenüber nehmen sich seine Farbstudien dagegen als satte und harmonische Klänge aus. Er unterlegt seiner Farbmelodie aus breiten Pinselstrichen und Wischen, transparenten oder fetten Flächen einen gegenständlichen Text. Blaßgelb sind die Schnitter, die mit dünnen Konturen aus dem satten Gelb des Kornfelds herausgeschnitten sind. Blaugraue Kuben setzen sich zur nächtlichen Stadt zusammen.
Eines der lustigsten Bilder der Ausstellung ist Karlis Miesnieks Mädchen mit Katze. In Rechtecke aufgeteilt, sitzt das nur mit einer winzigen Schräge des Mundwinkels grinsende Mädchen im gepunkteten Kleid da wie aus Papier gefaltet. Ihre Röhrenfinger kraulen die Katze auf ihrem Schoß. Das Formenspiel des Malers, der die materielle Flächigkeit des Bildes durch keine illusionistischen Volumen verraten will, ist wie das Spiel des Kindes behaglich und unbeschwert.
Keine unerwartete Begegnung
In den Bildkompositionen von Romans Suta, Aleksandra Belcova, Niklavs Strunke und Erasts Sveigs tauchen dann die kubistischen Requisiten Gitarre, Schachbrett, Flasche, Caféhaustisch, Straßenlaterne und einsamer Clown als Demonstrationsobjekte einer neuen Sichtweise von Fläche, Raum und Zeit auf; zugleich werden sie zu Metaphern für das Leben der Künstler. Vor diesen Bildern entkommt man nicht der Crux der Unerwarteten Begegnung: Man erkennt Motive und Formen wieder und kann die filternde Brille des Vergleichs mit bekannten Künstlern nicht abnehmen. Die Verspätung, mit der die lettischen Maler in unsere Rezeption eintauchen, läßt sie als die Nachahmer einer andernorts entstandenen Moderne erscheinen.
Uga Skulmes Portrait von E. Skulme (1927) gehört zu den Belegen der Neuen Sachlichkeit in Lettland. Die feingepinselte Glätte der Stoffe verleiht dem Bild in grünlich braunen Farben einen kühlen, seidigen Glanz. Einer sitzenden Frau mit rundem Gesicht und akurat geschnittenen kurzen Haaren ist ein glupschäugiger, kleiner, bulliger Hund zugesellt. Doch dies ist keine bösartige Charakterisierung, sondern nur eine ungewohnt nüchterne Darstellung; Hund und Frau entsprechen sich in der Wachheit und Gelassenheit ihrer Position. Diese Präsenz setzt sich fort in der Schärfe der erfaßten Gegenstände. In einem Stilleben von Uga Skulme erscheinen Früchte und Porzellan, von einer hell leuchtenden Kontur präzise eingefaßt, von einer inneren Energie geladen, aus der Fläche vorzustoßen.
Mit einem Blick, der sich in die Physiognomie des Modells eingräbt, hat Niclavs Strunke das Porträt des Antons Austrins gemalt. Die Anatomie des Schädels liegt fast bloß unter der straff gespannten Haut. Zwischen den Ausbuchtungen der Stirnknochen und Augenwülste glaubt man die angespannten Zentren der kleinen grauen Zellen pulsieren zu sehen. Der Blick durch die dünngerandete Brille ist der des Skeptikers. Von den Bildern von Dix und Schade sind diese Stilisierungen des Intellektuellen, des Zustands der Aufmerksamkeit und der Zurückhaltung, vertraut.
Frühe Meister der Selbststilisierung
Distanz und Konzentration zeichnet auch Ludolfi Liberts Männerporträt aus, in dem sich Sachlichkeit und prismatische Zergliederung der Flächen mit der Montage surrealer Elemente verbinden. Neben dem Gesicht des Mannes, zerknittert wie eine vielgelesene Zeitungsseite, schwebt wie ein Luftballon eine grinsende Totenmaske, durch deren eines Auge sich ein Wurm gefressen hat. Die unerbittliche Strenge, mit der der Mann über die messerscharfe Kante seiner Nasenspitze hinweg uns, den Betrachter des Bildes, mustert, artikuliert sich in diesem Spuk als Bedrohung.
Doch die befremdlichste Erscheinung unter den lettischen Künstlern ist Karlis Padegs, Graphiker des Grotesken und professioneller Inszenator seiner Selbstdarstellung. Ausgebufften Techniken der Reklame, selbstverfaßten skandalträchtigen Artikeln, Auftritten als Caballero und Dandy und nackten Selbstbildnissen verdankt er seinen legendären Ruf. Dies mondäne Image war die Maske eines armen und kranken Künstlers, der in seinen Bildern ein exzessives Leben zwischen Nüchternheit und Rausch, Sarkasmus und Mitleid führte. Padegs zeichnete delikat: Ein einziger roter Fleck in einem nur von einer dünnen Linie umrissenen weißen Körper kann zu einer obszönen und grausamen Herausforderung werden. Er zeichnete Träume: Sein Traumzeichner, der, ermattet und wie im Halbschlaf hingegossen, vor einem hohen Fenster liegt, durch das die blaue Sternennacht strahlt, löst sich in arabesken Schnörkeln auf, die am Fensterrahmen wie Zigarettenrauch aufsteigen. Vor allem aber kratzt Padegs Alpträume in das Papier, bei denen jeder Strich zum schmerzhaften Schnitt wird: Beim Five o'clock im Leichenschauhaus scheinen sich die Dämchen im Pelz und Herren im Smoking, noch mit den Händen ihre Geschlechtsteile tätschelnd, gemeinsam mit einer Überdosis verfeinerter Lust ins Aus katapultiert zu haben. Für Die Auferstehung des unbekannten Soldaten (1939) schleppen gebückte Behelmte einen Sarg mit klappernden, blutverkrusteten Knochen aus dem Rauch und Matsch der Front. Die letzte Mutter (1935) unter Gasmaske und Heiligenschein dreht sich mit eleganter Bewegung von ihrem verhungerten, die Arme nach ihr ausstreckenden Kind weg. Die Madonna mit dem Maschinengewehr, schwanenhalsig, weißgesichtig, blond, wird von totenköpfigen Soldaten auf den Schultern getragen. Padegs war kein leichtverdaulicher Künstler; zu seiner Außenseiterposition trug bei, daß er in seiner Kritik des Krieges die bekannten Pathosformeln des Leids aller trostversprechenden Gesten und aller Rückzugsorte des Mitgefühls beraubte. Er verweigerte dem Betrachter jegliche Identifikationsfiguren. Auch formal stieß Padegs in andere Zeiten vor. Meine Geliebte von der Straße zeigt aus einer tiefen Perspektive knapp über dem Pflaster den angeschnittenen Rücken eines Mannes und die Beine einer breitbeinig stehenden Frau. Der Rauch einer weggeworfenen Zigarette steigt ihr fast zwischen die Beine als Abbreviatur aller unter ihren kurzen Rock drängenden Begierden. Das Blatt nimmt die Comics der Popkultur vorweg. Katrin Bettina Müller
Unerwartete Begegnungen · Lettische Avantgarde 1910-1935. Eine Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Zusammenarbeit mit dem Museumsverband der Republik Lettland in der Staatlichen Kunsthalle Berlin; bis 28. Oktober, Di. bis So. von 10 bis 18 Uhr, Mi. von 10 bis 22 Uhr.
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