: Besinnung nach dem Einheitsgalopp
■ Eine Woche des Gedenkens an die Tage des Aufbruchs vor einem Jahr in Dresden
Dresden (taz) — Nichts erinnert heute in der Dresdner Kreuzkirche an jene Abende vor einem Jahr, als Tausende hier zusammenströmten, um vom Dialog zwischen den Abgesandten der Straße und dem gestern noch allmächtig scheinenden Staat zu hören und ihre Forderungen nach Demokratie zu artikulieren. Ein Jahr danach lädt die Kreuzkirche die DresdnerInnen allabendlich zum stillen Gedanken an jene Tage der gewaltfreien Revolution ein. Superintendent Christof Ziemer ist sich sicher: Auch bei jeder neu vorgelegten Entscheidung würde der bis zum geeinten Deutschland gegangene Weg erneut bekräftigt werden. „Und doch gehen in den nun auf uns zukommenden Erfüllungen die Erwartungen noch nicht auf. Da bleibt etwas, das nicht eingelöst ist, was aus der ersten Entwicklungslinie in die zweite einzubringen ist als Frucht der Erfahrungen...“
In die Versöhnungskirche kamen vor allem junge DresdnerInnen zum Gedenken. Der Schauspieler Friedrich Wilhelm Junge nannte den gewaltlosen Aufbruch vor einem Jahr eine Kulturleistung, die nun in die neu gewonnene Freiheit auch die Freiheit derer einschließen müsse, die zu uns kommen. Statt dessen wucherten neue Feindbilder, wachse neues Konfliktpotential.
Während die Wahlsieger von morgen „unsere Menschen“ auf Zukunftsoptimismus trimmen, wollten die DemonstrantInnen von gestern nicht so einfach von der Vergangenheit loskommen. Sie dachten laut nach über die Verstrickung von Opfern und Tätern als ein Kontinuum deutscher Geschichte. Sie sei, bekannte Maria Jacobi vom ökologischen Arbeitskreis Dresdner Kirchen, verflochten mit der Schuld ihrer Väter, dann im DDR-System schuldig geworden, indem sie zuviel tolerierte, und sie fühle aufs neue Schuld, die über uns komme im Gesamtdeutschland gegenüber den Armen. Immer habe Gewalt ihr Engagement begleitet, und sie sehe „deutlich, daß Engagement wieder mit Gewalt beantwortet wird“.
Auch die Gewalt gegen die ersten Demonstranten im Oktober letzten Jahres ist noch immer ungesühnt. Der Abschlußbericht der Untersuchungskommission blieb bisher folgenlos — für die Opfer und Täter. Stadtjugendpfarrer Henker beschrieb das strafrechtliche Dilemma der DDR. Grotesk sei, daß einerseits Menschen, die ihre verfassungsmäßigen Rechte in Anspruch nahmen, mit dem Strafrecht kollidierten, andererseits die Häscher nicht nach Recht und Gesetz zur Verantwortung gezogen werden konnten.
So bedrückend nah ist noch das Vergangene, daß an diesem Abend in der Versöhnungskirche ein Gespräch über Zukunftsentwürfe, über die Freiräume im neuen Deutschland nicht recht aufkommen wollte. „Die Mechanismen sind die gleichen geblieben. Wir haben keinen Sozialismus mehr, wir müssen in keine Partei, aber sonst ist alles beim alten. Nur daß wir jetzt Marktwirtschaf haben.“ „Hinzugekommen ist nur die Angst um den Arbeitsplatz“, rief eine Frau aus. Der Appell an eine anonyme Adresse, nun etwas zu tun, nütze nichts, entgegnete der Pfarrer der Versöhnungskirche. „Ich denke, wir müssen es selber tun. Wir haben es im Oktober selber getan, indem wir auf die Straße gegangen sind. Ich denke, sie kommen nicht drumherum, wenn es Ihnen zu bunt wird, wieder auf die Straße zu gehen.“ Detlef Krell
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