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Die Rostlaube und ihre Elfenbeintürme

■ Die Geisteswissenschaften reagieren auch ein Jahr nach dem Fall der Mauer nur ungenügend auf die neue Situation — Ein Blick in das Vorlesungsverzeichnis der Freien Universität: Altbewährtes statt neue Erkenntnisse

Rostlaube. Nur keine unwissenschaftliche Hast: Zwar ist die Mauer schon seit einem Jahr offen, die Landkarte geändert, aber die Zunft der Geisteswissenschaftler wagt deshalb noch lange keinen Schritt aus dem Elfenbeinturm. Der deutsch- deutsche Dammbruch hat den Wissenschaftlern die Sprache verschlagen. Oder ihre Studien waren nicht spruchreif. Das Vorlesungsverzeichnis offenbart nicht gerade ein schnelles Reflexionsvermögen: Alles scheint interessant — bis auf die Ereignisse vor der eigenen Haustür.

Wer bei den Germanisten auf einen erhellenden Spruch zum Presserummel um Christa Wolfs »Was bleibt?« wartet, kann mit dem jungen Schiller auf dem West-Östlichen Divan versauern. Lediglich ein Seminar beschäftigt sich mit der DDR-Prosa in den achtziger Jahren. Da hatten die letzten Jahre schon mehr zu bieten — die Mauer und Heiner Müller machten das Thema attraktiv. Die Deutsche Klassik, Lessings Dramentheorie — soweit geht es nach Strichliste, der »utopische Ort, die geheimnisvolle Freude« hingegen liegt in »Südamerika im Spiegel der (west)- deutschen Literatur«. Wer sich morgens um 8 Uhr im Seminar die Augen reibt, bekommt allenfalls die »Rezeption der ästhetischen Moderne in der DDR« verabreicht.

Die Publizisten und Theaterwissenschaftler grübeln wohl noch über künftige Lehrinhalte, während im Ostteil die Theaterleute um ihr Selbstverständnis ringen und die Medienlandschaft Purzelbäume schlägt. Kein Wort dazu. Oder verbirgt sich Wesentliches zwischen »Kunst und Wirklichkeit — Zum Begriff künstlerischer Wirklichkeit in einer mediendeterminierten Gesellschaft«?

Die Historiker vermeiden überhaupt gerne den Begriff »DDR«, der, wenn denn schon, süffisanterweise wieder zwischen den Gänsefüßchen auftaucht. Nun erwartet niemand von den Alt-Historikern Verbindliches über die römische Politik auf dem Gebiet der DDR, und die frühe Neuzeit wühlt standesgemäß in »skandinavischen Quellen zur Geschichte des Moskauer Staates im 17. Jahrhundert«. Geschenkt. Im Angebot weiterhin: Kalter Krieg, Kalter Krieg, Adenauer, Adenauer, Bundesrepublik von den Kinderschuhen bis...? Na bis November 1989. Die Deutsche Frage hat die Wissenschaftler nach ihrer vorläufigen Beantwortung erschöpft.

Am Otto-Suhr-Institut zumindest zerbricht man sich jenseits von Theoriebildung den Kopf über den Staatsvertrag und seine Folgen am Beispiel Berlin-Brandenburg. Auch die Kontakt- wie Konfliktscheu ist dort nicht so ausgeprägt: Ein Dozent von der Sektion Politikwissenschaft der Ingenieurhochschule in Ost-Berlin sinniert über die »Ambivalenz des Verhältnisses von Marxismus und Demokratie«. Ansonsten Schweigen in der Rostlaube. nana

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