NEULICH...: ...auf dem Freimarkt
■ Über die Auswechselung besoffener Losverkäufer und die Soziale Jahrmarktwirtschaft
“Lasset die Kinder fröhlich spielen, bevor sie den Ernst des Lebens fühlen“, heißt es in Schönschrift auf dem Karussellrumpf. Frommer Wunsch. Schluchzend stand er am Rand des Laternenlichtkreises, der dünne Mann, vor zwei Jahrzehnten auf dem Cannstatter Wasen, die mageren Schultern hoben zuckend das Jackett — aufziehbare Mäuschen wollte er verkaufen, sie wuselten um seine Füße. Mein Vater war schon weitergegangen, ahnte er doch, was ihn nun erwartete: Der Rest der Familie umlagerte ihn flehend: „Wir müssen ihm was abkaufen, bitte bitte bitte! „
Kaum zehn Meter weiter der nächste Schreck für behütete Bürgerskinder: Mit greisenhaftem Grinsen dreht eine Liliputanerin Pirouetten, gehalten am langen Finger eines Riesen. Und dann die todmüden Ponies, die nervösen Äffchen .... oder die alte Blinde, die in den Müllcontainern hinter dem Bierzelt nach Hühnerschlegelresten wühlt.
Auf heutigen Jahrmärkten bietet sich die Welt zum vergnüglichen Genuß an; in sich zusammengerutschte betrunkene Losverkäufer werden flugs ausgewechselt. Man feiert die Versöhnung mit Geschichte und Technik: Mittelalterliches Gruselkabinett mit grapschigen Affen oder simulierte Aufzugabstürze in Wolkenkratzern, welches Schreckensdesign hättens denn gern?
„Zufrieden grunzt Gottvater zum Gekreisch der Geknechteten“
„Oiih, uaah, ja-haah“, röchelt auf dem Freimarkt, gekonnt lüstern, ein pickliger Jüngling ins Mikrophon, schickt per Knopfdruck Echos hinterher — Weltraumeinsamkeit. Vom Schaltpult aus dreht, kippt und stürzt dieser gnadenlose Gottvater das Schiff zwanzig Meter über ihm. „Laßt die Sau raus!“ lautet das Erste Gebot für seine Geschöpfe. Mit zufriedenem Gegrunz begleitet er das Kreischen der Geknechteten. „Einmal und nie wieder“, strahlend stehen die Kids danach vor ihren Eltern. Nur zwei Mark hat sie die Angst gekostet. Das Angenehme daran: das Ende ist abzusehen — „Bitte nach links aussteigen.“
Autoscooter, hat ein junger Türke entschieden, Begleiter der bekopftuchten Schwester. Auch dabei: zwei Freundinnen in Jacketts, mit offenen Haaren. Die Schwester muß zu ihm, er lenkt, sie guckt gleichgültig ins Getümmel. Nach dieser Partie tuschelt sie kurz mit den Freundinnen, eine steigt aus und läßt die Verhüllte ans Steuer; bevor sich der Bruder versehen hat, tobt die nächste Runde los: Ernst und gesammelt entfleucht die Schwester, elegant jeden Anstoß vermeidend, Hauptsache durchkommen! Doch plötzlich wird sie eingekeilt, die beiden Mädchen hebt es mit Wucht aus den Sitzen, da lacht sie doch, fährt weiter, mit verrutschtem Kopftuch, geradewegs auf andere Autos los, rempelt und juchzt dazu. Christine Holch
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