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Überfüllte Heime und Behördenwillkür

■ Unbegrenzte Aufnahme von sowjetischen jüdischen Emigranten in Berlin endet am 31. Dezember/ Beratungsstelle ist seit Tagen überlaufen: Jeden Tag kommen etwa hundert/ Alle Betten in den Heimen belegt/ Noch kein Konzept für die Zukunft

Mitte. In den engen Fluren vor der Beratungsstelle für jüdische Emigranten aus der Sowjetunion drängeln sich die Menschen. Bis hinter Sibirien hat sich herumgesprochen, daß Deutschland ab Januar die Grenzen für Juden dichtmachen will, daß bis auf wenige auserwählte »Kontingentflüchtlinge« die Mehrheit der von Antisemitismus Bedrohten künftig vor der Tür zu bleiben hat. Deswegen kommen sie jetzt, überstürzt, viele nur mit einem Pappkoffer in der Hand.

Seit vergangenen Montag bitten täglich etwa hundert sowjetische Juden in der Otto-Grotewohl-Straße in Berlin-Mitte um eine Unterkunft, um Aufnahmeformulare zur Erteilung eines ständigen Wohnsitzes, um Hilfe. »Wir arbeiten momentan 13 Stunden pro Tag«, sagen die Mitarbeiter Lutz Basse und die unermüdlich dolmetschende Helga Schmidt, und es »kann einen wahnsinnig machen, wie sehr die Bürokraten mauern.« Ein Hauptproblem ist der unsichere Rechtsstatus der Emigranten und damit zusammenhängend fehlende Unterkünfte. Weil seit dem 3. Oktober die neuen Bundesländer sich weigern, den jüdischen Neuankömmlingen aus der Sowjetunion eine Aufenthaltserlaubnis zu gewähren, ist der einzige Rettungsanker Berlin.

Nur das Land Berlin hat den Ministerratsbeschluß der DDR übernommen, den jüdischen Emigranten einen ständigen Wohnsitz zu gewähren, vorausgesetzt, sie sind in Ost- Berlin gemeldet. Nur hier ist bis zum 31. Dezember die Zuwanderung noch nicht durch Quoten, Auflagen und bürokratische Barrieren begrenzt. Zumindest nicht auf dem Papier. In der Praxis sieht es anders aus. »Der Beschluß der Stadtverordnetenversammlung hat sich noch nicht bis in alle Ämter durchgesprochen«, sagt Lutz Basse.

Die auch für Ost-Berlin zuständige »Abteilung Ausländerangelegenheiten« beim Landeseinwohneramt am Friedrich-Krause-Ufer in Wedding handelt wie eh und je — willkürlich und selbstherrlich. Eine einzige Familie erlebte vor kurzem, daß im selben Raum vier verschiedene Entscheidungen getroffen wurden. Der Vater erhielt die Aufenthaltserlaubnis für vier Wochen, die Mutter für fünf Jahre, die Tochter für sechs und der Sohn für drei Monate. Der taz liegen inzwischen auch Unterlagen vor, die beweisen, daß jüdische Emigranten aufgefordert werden, »die Bundesrepublik unverzüglich zu verlassen« (siehe Ausriß). Dies ist ein klarer Verstoß gegen den Beschluß der Stadtverordnetenversammlung.

Weil es aufgrund dieser Sonderregelung nur in Berlin möglich ist, gegen Behördenwillkür zu streiten, und weil die anderen Bundesländer den Zuzug der sowjetischen Juden von vornherein verhindern, müssen die Mitarbeiter der Beratungsstelle alle Hilfesuchenden in Berlin unterbringen. Das ist sehr schwierig. Die Marzahner Arbeiterwohnheime in der Köthener Straße sind mit 520 Personen voll belegt, und das Aufnahmeheim in Hessenwinkel platzt aus allen Nähten. Dort gibt es zwei Häuser, die für die Aufnahme von Familien geeignet sind.

In dem einem Haus leben 150 Personen, im anderen zur Zeit 130 Menschen. Übrig bleibt noch das »Haus 3«, in dem früher die Soldaten der Nationalen Volksarmee untergebracht waren. In diesen Mannschaftsunterkünften, die, wie Lutz Basse es sagt, »in einem katastrophalen Zustand sind«, leben seit vergangenem Dienstag 280 Personen. Obwohl in Hessenwinkel kein Bett mehr frei ist, werden die jüdischen Neuankömmlinge dort hingeschickt. »Es bleibt uns keine andere Wahl«, sagt Basse. Gemildert wird die Notlage durch das Landessozialamt. Seit Mittwoch werden jeden Nachmittag zwischen 70 und 100 Emigranten aus Hessenwinkel abgeholt und in das Aufnahmeheim Streitstraße nach Spandau gebracht.

Völlig unklar ist, wie die Situation nach dem 1. Januaur sein wird. Wenn nicht ein Wunder geschieht, dann wird es die Beratungsstelle im neuen Jahr nicht mehr geben. Den Mitarbeitern wurde bereits gekündigt, und die Räume beansprucht das Bundesinnenministerium — für den »Umweltschutz«. Selbst eine großzügige »Kontingentsregelung« wird den Strom der Emigranten nicht bremsen. Sie werden kommen. Anita Kugler

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