: Boris Becker, die Mainzer Straße und der Grand Slam
Ein ausschweifender Rückblick auf die herausragenden Ereignisse des vorolympischen und nachweltmeisterlichen Sportjahres 1991 ■ Von Matti Lieske
Perth, 7. Januar: Augenfällig wird der Verfall des wissenschaftlichen Sozialismus bei den Schwimmweltmeisterschaften im australischen Perth. Während Matt Biondi, die schwimmende Bockwurst aus Kalifornien, überall mit seinen Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehen herumprahlt und souverän sämtliche Freistil-Kurzstrecken gewinnt, könnten die sowjetischen Vertreter gar nicht prahlen, selbst wenn sie Schwimmhäute hätten: Ihr aufgeregtes Geschnatter kann beim besten Willen kein Mensch verstehen. Nachdem sie allesamt im Vorlauf ausgeschieden sind, beantragt die Mannschaftsleitung politisches Asyl für die UdSSR-Schwimmer und ihre medizinischen Betreuer. Die australische Regierung zeigt sich großzügig, und den Athleten wird ein vorläufiges Quartier im Ententeich des Stadtparks von Perth zugewiesen.
Berlin, 28. Januar: Einen Tag nach seinem Sieg bei den Australian Open, der die deutsche Öffentlichkeit in verzückte Raserei versetzt hat, zieht die neue Nummer eins der Tennis-Weltrangliste gemeinsam mit seiner Freundin Karen Schultz in die wiederbesetzte Mainzer Straße in Berlin. Während 'Bild‘ wütend schäumt: „Schon wieder: Rote Karen verhetzt Boris“ und kategorisch fordert: „Carlo, hilf!“, bleibt Manager Ion Tiriac gelassen. „Was gut für Boris, gut für Geschäft“, befindet er und schließt sofort einen millionenschweren Sponsorvertrag mit einem Mineralölmulti ab.
Berlin, 29. Januar: Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen protestiert beim Deutschen Tennis Bund (DTB) dagegen, daß das deutsche Davis-Cup-Team am 1. Februar in Dortmund gegen Italien mit dem neuen Becker-Werbespruch „Pack den Molli in den Tank“ antritt. DTB-Präsident Stauder bleibt jedoch hart, verweist auf das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf das viele Geld, das dem deutschen Jugendtennis verlorenginge, wenn Becker nicht mehr im Davis Cup spiele, und bescheidet Diepgen, er möge sich nicht so anstellen. Gleichzeitig ergibt eine Umfrage des Wickert-Instituts, daß 80 Prozent aller Deutschen gern in der Mainzer Straße wohnen würden.
Berlin, 30. Januar: Die Mainzer Straße wird in den frühen Morgenstunden geräumt. Boris Becker zählt nicht zu den Todesopfern, wird aber festgenommen. Die Staatsanwaltschaft erläßt Haftbefehl, weil Becker angeblich bei der Herstellung des größten als Tennisball getarnten Molotow-Cocktails der Geschichte, einem sogenannten „Grand Slam“ (Polizeipräsident Schertz), erwischt wurde.
Moskau, 31. Juni: Michail Gorbatschow kündigt eine radikale Perestroika im Sowjetsport an und dekretiert als erste Maßnahme die Trockenlegung der unterirdischen Ententeiche im bislang geheimen Dopinglabor von Krasnojarsk.
Dortmund, 1. Februar: Die Davis- Cup-Begegnung Deutschland-Italien muß beim Stande von 0:0 abgebrochen werden. Als randalierende Vips immer wieder Kaviar und Hummerschwänze auf den Platz schleudern, verlassen die Italiener entnervt die Halle. Im ganzen Land organisieren örtliche Tennisclubs derweil Demonstrationszüge, auf denen „Freiheit für Boris“ und „Finger weg von der Mainzer Straße“ gefordert wird.
Berlin, 2. Februar: Bundespräsident Richard von Weizsäcker erläßt eine Generalamnestie für Boris Becker und zieht selbst in die Mainzer Straße. Der Internationale Tennisverband erklärt Deutschland zum Sieger gegen Italien. Die Italiener hätten die Regeln verletzt, indem sie ohne Grund den Platz verließen. Die Wahl des Bodenbelages sei schließlich erklärtes Recht der Gastgeber. Boris Becker fährt zur Erholung nach Kuba.
Shigulda, 25. Februar: Bei den Rodelweltmeisterschaften verliert Georg Hackl im entscheidenden Lauf kurz nach dem Start seinen Schlitten, kommt aber dennoch mit Bestzeit ins Ziel. Als sich Hackl noch diebisch über die vermeintlich gewonnene Goldmedaille freut („Jo verreck“), beschließt die eilig einberufene Jury, Hackls Hinterteil „trotz einer gewissen Ähnlichkeit“ nicht als Schlitten anzuerkennen und den Rodler zu disqualifizieren. „Das menschliche Gesäß ist grundsätzlich kein Sportgerät“, konstatieren die Funktionäre. Lapidarer Kommentar Hackls: „Jo mei, leckt's mi an der Kuf'n.“
Neapel, 18. März: Diego Maradona unterschreibt einen mit zwanzig Millionen Dollar dotierten Zehnjahresvertrag beim SSC Neapel. Der Kontrakt verpflichtet den Argentinier, ein Höchstgewicht von zwei Zentnern nicht zu überschreiten, entbindet ihn dafür aber von jeglichen Trainingsaktivitäten, von Europacupspielen in kalten Ländern, sowie vom Einsatz bei Regen, großer Hitze und Vesuv-Ausbrüchen. Sein Aktionsradius wird auf zehn Quadratmeter festgelegt. „Das müßte eigentlich zur Meisterschaft reichen“, meint SSC-Präsident Ferlaino, kündigt aber gleichzeitig drakonische Strafen für den Fall an, daß Maradona vertragsbrüchig werden sollte: „Für jedes Kilo zuviel muß er fünf Mark in die Mannschaftskasse zahlen.“
Havanna, 3. April: Boris Becker zieht nach Havanna und erklärt, daß er nicht zum Davis-Cup-Match gegen Argentinien antreten werde, sondern künftig für Kuba spielen wolle. Nach einer Infas-Umfrage befürworten 80 Prozent der Deutschen die Todesstrafe für Hausbesetzer.
Bari, 29. Mai: Nach der 0:1-Niederlage Bayern Münchens gegen den 7. der Oberliga Nordost, Dynamo Dresden, im Europapokalfinale der Landesmeister verbrennt Manager Uli Hoeneß noch auf der Trainerbank seine American Express- Karte und wird Olivenzüchter in der Gegend von Otranto. Dynamo-Trainer Jupp Heynckes, nach dem verpatztem Meisterschaftsfinale der Münchner in den Osten geflüchtet, frohlockt schelmisch vor der internationalen Presse: „Ich habe doch schon immer gesagt, daß wir den Europacup holen.“
Brühl, 12. Juli: Eine Blutuntersuchung ergibt, daß Peter Graf zwar der Vater der Tochter des Fotomodells Nicole Meissner ist, nicht aber der von Steffi Graf. Während die entrüstete Steffi auf der Stelle dem Navratilova-Clan beitritt, zeigt Peter Graf wenig Reue und stürzt sich mit Feuereifer auf die neue Aufgabe: „Mit sieben ist die Kleine die Nummer eins.“
Bremen, 8. August: Wenige Tage, nachdem Werder Bremen Toni Schumacher als neuen Torwart präsentiert hat, gibt Manager Willi Lemke die Verpflichtung von Bernd Schuster bekannt, der sich nach einem Streit mit dem Präsidenten von Atletico Madrid ein halbes Jahr lang in seinem Haus auf Ibiza eingeschlossen hatte. In einer Pressekonferenz berichtet Werder-Trainer Otto Rehhagel Einzelheiten über die Verhandlungen („Wir haben uns Zettel unter der Tür durchgeschoben.“) und erläutert gleichzeitig seine Konzeption für die Zukunft: „Mein Traum ist es, die Europameisterelf von 1980 zusammenzukaufen.“
Tokio, 23. August: Sensation bei der Leichtathletik-WM. Nach dem überlegenen Sieg Ben Johnsons über 100 Meter stellt Günter Wallraff auf einer Pressekonferenz im Olympiastadion von Tokio sein neues Buch „Ich war Ben Johnson“ vor, in dem er fast alle aktiven Leichtathleten des Dopings überführt. Wallraff enthüllt, daß er bereits 1985 in die Rolle des kanadischen Sprinters geschlüpft war und schon 1988 kurz vor dem Abschluß seiner Recherchen gestanden hatte, als ihm in Seoul durch einen üblen Sabotageakt von Carl Lewis, der ihm den Urin von Florence Griffith-Joyner unterschob, ein Strich durch die Rechnung gemacht wurde. Nach dem Sieg von Tokio sei nun jedoch die Zeit zum Auspacken gekommen. „Training, nichts als Training“, antwortet Wallraff dann auf die Frage, wie er so schnell geworden sei, und gibt der internationalen Presse auch bereitwillig Auskunft über das Schicksal des echten Ben Johnson: „Er ist unter dem Namen Gremliza Herausgeber einer Zeitschrift namens 'Konkret‘.
Kitzbühel, 5. September: Franz Beckenbauer wird nach seinem Rausschmiß bei Olympique Marseille Präsident, Manager, Trainer und Spieler des ostdeutschen Amateurvereins „Schwarze Pumpe“. Nach seinen Gründen für diesen Schritt befragt, antwortet Beckenbauer: „Ich habe keine Ahnung.“
Baden-Baden, 18. Dezember: Obwohl sie in diesem Jahr kein Turnier gewonnen hat, wird Steffi Graf „Sportlerin des Jahres“. Als der zweite Platz der Einzel- und Mannschaftsweltmeisterin im Fechten, Anja Fichtel, bekanntgegeben wird, kommt es zum Eklat. Emil Beck stürmt mit gezogenem Degen die Bühne, nimmt Willi Daume als Geisel und fordert ultimativ die Proklamation von Anja Fichtel zur „Sportlerin der nächsten zehn Jahre“. Noch bevor die Scharfschützen der GSG 9 eingreifen können, beendet eine konzertierte Aktion von Sportlerin und Sportler des Jahres 1991 die Geiselnahme. Während Boris Becker zur Ablenkung mit einem Hundertmarkschein raschelt, entwaffnet Steffi Graf Beck mit einer krachenden Vorhand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen