Tschechoslowakei: Das neue Jahr bringt die Reform

■ Umsatzeinbrüche durch Preiserhöhungen/ Inflation soll auf 30 Prozent begrenzt bleiben/ Rechte wie Linke kritisieren die liberale Regierung

Prag (taz/adn) — Schon der zweite Tag des neuen Jahres hielt für Tschechen und Slowaken eine ganze Reihe unangenehmer Überraschungen bereit: Beinahe über Nacht hatten sich die Preise vieler Waren verdoppelt. Erbost warfen RentnerInnen die trockenen Brötchen in die Regale zurück, für die noch vor Silvester 30, jetzt aber 70 Heller auf den Ladentisch gelegt werden mußten. Viele Geschäfte, vor denen sich ansonsten lange Käuferschlangen bilden, blieben leer. Stattdessen drängten sich die KundInnen vor den Schaufenstern und diskutierten die Preise.

„Wir versinken in einem Meer verteuerter Milch“, überschrieb dann am Sonnabend die Prager Zeitung 'Mlada fronta‘ Berichte über die Folgen: Besonders bei Molkerei-Erzeugnissen würden häufig die festgelegten Höchstpreise überschritten. Weil deswegen der Kauf von Milch- Produkten drastisch abgenommen habe, seien Molkereien in Schwierigkeiten geraten. Sie werfen dem Einzelhandel eine Gewinnspanne von bis zu einem Drittel des Einkaufspreises vor.

Doch obwohl immer wieder die Ausrufe des Entsetzens zu hören waren — „Butter statt 15 nun 27 Kronen!“ — reagierte die überwiegende Mehrheit gelassen. Schließlich war schon seit Wochen bekannt, was der Januar 1991 dem Land bringen werde: den Beginn der ökonomischen Reform.

Neben der Freigabe der Preise und des Außenhandels will die Prager Regierung in diesem Jahr die zwei wichtigsten Umbaumaßnahmen des Wirtschaftssystems in Angriff nehmen. Im Rahmen der sogenannten kleinen Privatisierung sollen rund 100.000 Dienstleistungsbetriebe bei Auktionen versteigert werden, die „große Privatisierung“ sieht eine Auflösung der Produktionsmonopole und ihre Überführung in Aktiengesellschaften vor.

Die geplante Veränderung der Besitzverhältnisse hat auch im Haushalt der CSFR ihre Spuren hinterlassen. Subventionen wurden um 11,6 Prozent gekürzt; Zuschüsse sollen in diesem Jahr nur die öffentlichen Verkehrsbetriebe und die Eisenerzförderung erhalten. Ebenso wie die Einsparungen in den Bereichen Verteidigung, Polizei und öffentliche Investitionen (je 2,5 Prozent), werden die bislang für künstliche Niedrigpreise verwendeten Gelder direkt der Bevölkerung zugute kommen. Deutliche Ausgabensteigerungen sind im Gesundheits- und Schulsystem (21,4 Prozent) vorgesehen.

Insgesamt geht die Regierung davon aus, daß das Nationalprodukt um fünf Prozent abnehmen wird. Die erstaunlich niedrige Auslandsverschuldung von rund drei Milliarden Dollar, die 1990 nicht anstieg, soll auch im begonnenen Jahr eingedämmt bleiben. Das Schreckgespenst heißt aber Inflation. Um es zu bannen — das heißt unter dreißig Prozent zu halten —, beschwört Finanzminister Klaus die restriktive Geldpolitik. Stolz verweist er darauf, daß die Einnahmen des Staates in diesem Jahr um 6,7 Prozent, die Ausgaben aber nur um 6,2 Prozent wachsen werden.

Doch während sich die Regierung bemüht, Optimismus zu verbreiten, halten ihre Kritiker viele der angestrebten Ziele für unrealistisch. So erwartet der Direktor der Ökonomischen Hochschule, Silhan, eine Zunahme der Arbeitslosenzahl von 60.000 auf 750.000. Regierungschef Marian Calfa selbst räumte am letzten Freitag im Fernsehen ein, daß etwa 600.000 TschechoslowakInnen an der Grenze zur Armut leben, etwa die Hälfte davon Rentner. Die erneute Abwertung der tschechoslowakischen Währung auf 28 Kronen pro US-Dollar erscheint vielen Ökonomen als unzureichend. Sie sehen den tatsächlichen Kurs bei 40 Kronen je Dollar.

Grundsätzlichere Kritik trifft das Reformprogramm jedoch von zwei unterschiedlichen Richtungen. Auf der linken Seite beklagen die Gewerkschaften das Einfrieren der Löhne und die Kürzung der Arbeitslosengelder von 16 auf sechs Milliarden Kronen. Inzwischen haben die Gewerkschaften Vorstellungen von Regierung und Unternehmerverbänden über die Einführung eines Mindestlohns von 1.850 Kronen (etwa 100 DM oder rund zwei Drittel des monatlichen Durchschnittslohnes) als zu niedrig zurückgewiesen. Sie verlangen einen Minimallohn von 2.350 Kronen, keinesfalls jedoch unter 2.100 Kronen.

Der rechte Flügel des Bürgerforums sieht dagegen in der Festsetzung von Höchstpreisen für Grundnahrungsmittel einen Rückfall in sozialistische Lenkungsprinzipien. Gerade dies kann Finanzminister Klaus sicher aber nicht vorgeworfen werden. Vielmehr weiß der weltweit anerkannte geistige Vater der Reform und Thatcher-Freund, der in unzähligen Interviews stets die Gesetze der Marktwirtschaft predigt, daß die Opferbereitschaft der Bevölkerung ihre Grenzen hat. Er weiß, daß 43 Prozent der Bürger das Privatisierungsprogramm zwar vorbehaltlos unterstützen, gleichzeitig jedoch 50 Prozent entschlossen sind, bei einem längerfristigen Absinken ihres Lebensstandards für höhere Löhne zu streiken. Und er meint, daß eine andauernde Streikwelle die größte Gefahr für seine Wirtschaftsreform ist.

Um Protestaktionen zu verhindern, will die Regierung daher mit staatlichen Eingriffen die Arbeitslosenzahl auf 300.000 begrenzen. Offen gesteht die Regierung ein, daß sie bereit sei, für eine kurzfristig notwendige Stabilisierung der vom Konkurs bedrohten Betriebe den Haushaltsüberschuß von acht Milliarden Kronen auszugeben.

In einem Punkt sind sich die Regierung und ihre Kritiker einig: Die Reformen werden 1991 noch mehr als 1990 von der globalen Entwicklung abhängig sein, vor allem von der am Golf und in der Sowjetunion. Ein Szenario aus dem Oktober geht davon aus, daß bei einer Lieferung von weniger als elf Millionen Tonnen Erdöl etliche Betriebe stillgelegt werden müßten. In langwierigen Verhandlungen mit der Sowjetunion einigte man sich auf eine Abnahme von nur 7,5 Millionen Tonnen. Die Quellen der restlichen fünf Millionen müssen erst noch gefunden werden. Sabine Herre