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Kreuzberger Projekte am Abgrund

■ Wegen kräftiger Mietsteigerungen im Gewerbe stehen vor allem kleine Alternativbetriebe, etwa in der Eisenbahnstraße, vor dem Aus/ Kampagne »Wir bleiben in SO36« demonstriert heute

Kreuzberg. Weil viele alternative Betriebe und Projekte in Kreuzberg die anstehenden Mietsteigerungen nicht mitmachen können, haben einige von ihnen eine Kampagne mit dem Titel »Wir bleiben in SO36« ins Leben gerufen. Die neue attraktive Citylage verdrängt, so befürchten die Betroffenen, die alteingesessene Szene.

Dazu gehören die Gewerbeetagen in der Eisenbahnstraße 4 nahe der Markthalle, lange Jahre das Herz der linken Berliner Gegenöffentlichkeit: Die vom Staatsschutz verfolgte Zeitung 'Radikal‘ wurde dort hergestellt wie auch der bravere 'Süd-Ost-Expreß‘ oder die Frauenzeitungen 'Anagan‘ und 'Primadonna‘. Heute residieren in den Räumen der ehemaligen Setzerei »Gegensatz« das Bildarchiv »Umbruch« und die monatlich erscheinende 'ProWo‘ (»Projekt Wochenzeitung«).

Die Eisenbahnstraße 4 wurde vor anderthalb Jahren von einem Arzt namens Bollack gekauft. Der kündigte den Gewerbemietern und bot ihnen zunächst die gleichen Etagen — nach der Modernisierung — für 15 Mark pro Quadratmeter an, für 'ProWo‘ unbezahlbar. Nach einigen »Aktionen«, etwa einer megaphonbestückten Kundgebung vor Bollacks Praxis in Tegel, haben sich die Fronten verhärtet: 'ProWo‘ muß raus. Ein Einzelfall ist das nicht. Am Paul-Lincke-Ufer 34, in der Prinzessinnenstraße 16 und in der Neuköllner Schinkestraße 8-9 stemmen sich Wohn- und Gewerbemieter gegen die Pläne neuer und investitionsbegieriger Eigentümer. Mehrere Wohngemeinschaften im Gewerbeflügel der Reichenberger Straße 35 werden demnächst an die Luft gesetzt, pikanterweise von der Ehe- und Strohfrau der Berliner Skandalnudel Dietrich Garski.

Das Pech der Projekte, aber auch der Mieter in Fabriketagen ist, daß das Gewerbemietrecht Mietwucher, Zeitmietverträge und Kündigungen zwecks Mieterhöhungen erlaubt. Schon in den letzten Jahren wurden deshalb kleine Läden aus Neuköllner, Steglitzer und Schöneberger Einkaufsstraßen vertrieben. Nun trifft es auch das vormals wenig nachgefragte Kreuzberg. Das geplante Ost-West-Zentrum am Moritzplatz verlangt etwa für den Quadratmeter Bürofläche 80 Mark monatlich.

Die Konflikte laufen nur zwischen privat und privat, also Eigentümern und Mietern, ab. Der Staat hält sich raus. Zaghafte Gesetzesinitiativen, die Gewerbemieten zu begrenzen, versandeten im Abgeordnetenhaus. Ob planungsrechtliche Eingriffe, etwa eine Milieuschutzverordnung (siehe Kasten) greifen, steht noch dahin. esch

Eine Demo »Wir bleiben in SO 36« findet heute um 11.30 Uhr ab Oranienplatz statt.

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