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Kreuzzug der Londoner Zentrale gegen die unbotmäßigen Räte

■ Wie eine Lokalsteuer die Bezirke entmachten sollte/ Gespräch mit Sheffields Ex-Bürgermeister David Blunkett, heute Labour-Sprecher für Lokales INTERVIEW

In zwölf Jahren Thatcher-Regierung haben die einst so mächtigen City-Councils ihre Macht eingebüßt. Der „Greater London Council“ wurde per Handstreich aufgelöst. Seitdem ist London die einzige europäische Hauptstadt, die keinen Bürgermeister hat, sondern direkt von der Zentrale verwaltet wird. Während der großen Bergarbeiterstreiks 1984 wurde gegen den trotzkistischen Labour-Stadtrat von Liverpool und Manchester ein wahrer Kreuzzug geführt, bis die Räte abgesetzt waren. Nie war Großbritannien so zentralistisch wie heute.

Auch die „Poll Tax“, die lokale Kopfsteuer, die Thatchers Sturz einleitete, war ein Mittel, um die Autonomie der Bezirksregierungen zu beschränken. Thatcher hatte erklärt, daß die Bezirksverwaltungen zum Sparen gezwungen würden, weil sie ihre Finanzpläne öffentlich machen müssen. Besonders verschwenderischen Bezirksregierungen hätten deshalb bei den nächsten Lokalwahlen mit der Rache der WählerInnen zu rechnen. Dann zeigte sich jedoch, daß die von den Tories verwalteten Bezirke die Regierungsrichtlinien fast ebenso deutlich überschritten, wie die Labour-Verwaltungen. Denn gerade in den innerstädtischen Bezirken muß die Kopfsteuer besonders hoch sein, weil dort eine größere Abhängigkeit von Sozialleistungen besteht. Die Massenproteste und die Boykottbewegung wurden vor allem durch die Ungerechtigkeit des neuen Abgabesystems ausgelöst: Die Kopfsteuer ist unabhängig vom Einkommen — alle erwachsenen Einwohner eines Bezirks müssen dasselbe zahlen. John Major hat das brisante Dossier Poll Tax seinem zuständigen Minister Heseltine zugeschoben. Der hatte sich vorher für die Abschaffung der Steuer ausgesprochen, bat sich jetzt aber noch eine Bedenkzeit aus.

David Blunkett war lange Jahre Bürgermeister von Sheffield, und vermutlich das einzige blinde Stadtoberhaupt im Königreich. Heute ist er „Official Labour Spokesperson on Local Government“ und Abgeordneter für Sheffield.

taz: Für einen Nationalstaat mögen Gemeinden und Kreise noch optimale Einheiten sein — aber müßten sie in einem größeren Ensemble nicht durch andere Einheiten ersetzt werden?

David Blunkett: Wir glauben, daß eine europäische Integration eine Dezentralisierung ermöglicht. Das heißt, wir sehen eine bedeutendere Rolle für die Lokalverwaltungen (local government) und ein System regionaler Ebenen, nämlich eine Nationalversammlung für Schottland und Wales sowie Versammlungen (Assemblies) für die verschiedenen Regionen. Die Regionen werden in stärkeren Wettbewerb mit Regionen in Europa treten. „1992“ ist also keine Entschuldigung dafür, die Macht der Lokalverwaltungen zu verringern, sondern im Gegenteil.

Welche politische und finanzielle Autonomie haben die Gemeinden noch?

In den zwölf Jahren unter Thatcher haben die Gemeinden immer mehr Autonomie eingebüßt. Großbritannien war im 20. Jahrhundert noch nie so zentralisiert wie jetzt. Die Kopfsteuer ist ein Beispiel dafür, wie der Zentralstaat die Kontrolle über die Finanzen an sich gerissen hat. Darüber hinaus gibt es jetzt die „business rate“. Die war früher von den Gemeinden festgelegt worden. Heute bestimmt London darüber und entscheidet auch zentral, wie das verteilt wird. Der Zentralstaat hat Kontrolle über den Wohnungsbau und die direkten Dienstleistungen der Gemeinden. Er kann Restriktionen bei der Ausgabenpolitik auferlegen — kurzum: Wir haben es mit einem Angriff auf die Lokalverwaltungen auf allen zu tun.

Gibt es Bestrebungen, im Hinblick auf den Binnenmarkt eine den deutschen Ländern vergleichbare Mittelstruktur zu schaffen, beziehungsweise die schon vorhandenen aufzuwerten?

Ja. In unserem Papier, das noch in diesem Monat veröffentlicht wird, beziehen wir uns ausdrücklich auf die Länderstruktur in Deutschland. Es ist zwar kein perfektes Modell, aber doch sehr interessant. Wir wollen den Trend in Großbritannien umkehren und den Lokalverwaltungen mehr Kontrolle übertragen, damit sie eine aktivere Rolle spielen können. Labour tritt für die völlige Wiederherstellung der Lokalverwaltungen ein.

Was erwarten sich die Regionen, die Schotten und Waliser von Europa?

Es gibt eine regionale Identität. Sie ist in England vielleicht nicht so stark ausgeprägt wie in Schottland, Wales und vielen anderen Regionen Europas. Unter einer Labour-Regierung würden Schottland und Wales eine größere Unabhängigkeit erhalten, ebenso wie die Regionen, die aufgrund der traditonellen Regionalgrenzen festgelegt würden. Interview: Ralf Sotscheck

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