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„Komm nach Haus“ — Die Bahnhofskinder von Bukarest

Sie sind aus den Waisenhäusern geflohen, werden von der Bahnpolizei geschlagen, von Dealern mit Farblacken zum Schnüffeln versorgt und für Pfennigbeträge zur Prostitution gezwungen/ Fünfzig Kinder leben im Dschungel des Bukarester Nordbahnhofs  ■ Aus Bukarest Peter Dammann

Obwohl sie immer da sind, obwohl sie alles beobachten, sind sie unter den 200.000 Reisenden, die täglich auf diesem Bahnhof ankommen oder abfahren, erst mal nicht zu sehen.

In der Hocke, im Sitzen, mit den Augen in Bauchhöhe, sind sie leichter zu entdecken. Auf den Bahnsteigen, in den Hallen und im Wartesaal wieseln sie meist nur zwischen den Beinen der Reisenden, der Gepäckträger und der Militärpolizei. Sie flitzen abgemagert neben Elektrowagen her, sie schleichen um die Los- und Zeitungsverkäufer. Barfuß, verlaust, hungrig lungern sie an den Tischen des Restaurants. Sie sind bemüht nicht zu stören, nicht aufzufallen. Wer sie übersehen will, kann das ohne Mühe.

Der Wartesaal zweiter Klasse ist spärlich beleuchtet. Es stinkt. Das Atmen fällt schwer. Der Fußboden ist überzogen mit einem schmierig klebrigen Schmutzfilm. Auf einer Bank am Eingang liegt ein an beiden Beinen bis zu den Knien amputierter Mann. Im Schlaf umklammert er seine Holzkrücken. Vier besonders kecke Bahnhofskinder spielen vor der Bank mit einem kleinen gelben Plastikball. Sie müssen die Grundregel ihres Überlebens — bloß nicht auffallen — vergessen haben; vielleicht aus Glück über ihr knallgelbes Eis, das sie während ihres Herumtollens in einer Waffel balancieren. Zwei Männer brüllen die Kinder verärgert an, im Eingang erscheint ein uniformierter Bahnbeamter, der sofort die Bahnkarten der Wartenden zu kontrollieren beginnt, als handle es sich um ein Privileg, den Alptraum dieser Hölle auszuhalten. Panikartig stürzen die Kinder aus dem Wartesaal, stolpern, und das Eis fliegt auf die gelben Fliesen der Bahnhofshalle. Sie betteln um einen Leu für ein neues Eis.

Kaum haben die ersten Kinder ihre Münze, erscheinen zwei, drei weitere Kinder aus dem Nichts, strecken ihre dünnen Arme hoch, wollen auch Geld. Als sie bemerken, daß sie fotografiert werden, drapieren sie sich kaspernd zu einem Gruppenbild. Ein Mann mit Glatze und braunem Ledermantel mischt sich brüllend ein: „Erst gibt der Ausländer den Kindern Geld, dann macht er Fotos von diesen Taugenichtsen. Im Ausland zeigen sie immer nur das Schlechte aus Rumänien, sie wollen dem Ansehen unseres Landes schaden, sie wollen unsere Ehre beschmutzen.“ Um den aufgebrachten Mann sammeln sich schnell zwanzig, dreißig Personen. Doina, die Dolmetscherin, wird umringt von wild gestikulierenden Männern, die laut nachdenken, ob sie handgreiflich werden sollen. Doina schreit zurück: „Die Kinder auf dem Bahnhof gibt es nun mal. Man muß das im Ausland zeigen. Wenn wir Hilfe kriegen wollen, muß man das auch im Ausland zeigen.“ „Hilfe aus dem Ausland“, kommt es abfällig aus der Menge. Selten sei sie angekommen und bei der Medizin sei oft das Verfallsdatum abgelaufen. Der Mann im Ledermantel ist verschwunden, die Menge löst sich auf.

Die „Kinder Gottes“ tragen Wollsocken statt Schuhe

Fünfzig Meter entfernt, in einer ruhigen Ecke des Bahnhofs, hat sich die Bahnpolizei unbemerkt genähert: „Die Pässe“, fordert er, „sie haben die Reisenden durch das Fotografieren der Kinder provoziert.“ Ausgiebig studiert er die Ausweise. „Ach, sie sind Rumänin“, stellt er genüßlich an Doina gewandt fest, um dann auffällig lange ihre Adresse im Ausweis zu fixieren. „Wir haben eine Erlaubnis von ihrem Chef Major Lascu“, kontert sie. „Ja, wenn sie eine Erlaubnis haben“, damit rückt der Beamte die Ausweise wieder heraus, „aber fotografieren sie die Kinder unauffällig.“

Die Bahnpolizei hat ihren Sitz gleich links vom Haupteingang zwischen dem Friseur und der Gepäckaufbewahrung. Aus der geöffneten Tür des neongrün beleuchteten Haarschneidesalons wehen Geruchswolken des „apá de colonie“, Kölnisch Wasser, vorbei an den beiden uniformierten, pickligen Wachposten des Reviers. Sie dürften gerade volljährig sein. An ihrem Koppel hängen Pistole und Handschellen. Die Hände sind auf dem Rücken verschränkt, an einem Finger baumelt am Lederriemen ein weißer Gummiknüppel. Sie wollen auf keinen Fall fotografiert werden. Hinter der Schwingtür ist ein kleiner, quadratischer, fensterloser Raum. Eine Putzfrau verteilt den Staub auf dem groben Marmorfußboden. Aus der Tür, die in die Diensträume führt, erscheint Major Maxim, der stellvertretende Chef im kurzärmligen, weißen Hemd, mit einem Bauch, der über den Gürtel seiner Hose quillt. „Ein Interview? Gerade gestern war das ZDF aus Deutschland hier. Könnt ihr euch nicht absprechen? Interviews kosten Geld, was wollt ihr zahlen“, will er wissen, um nach einer kurzen Pause diese Frage als „Spaß“ wegzuwischen. „Ja, wir fangen die Kinder und bringen sie dann zum ,Centru‘. Später kommen sie wieder zurück. Das ist ein Kreislauf.“ In der Ceausescu-Zeit hätte die Polizei es einfacher gehabt, jetzt sei ihnen die Autorität geklaut worden. „Wenn wir jetzt zu jemandem sagen: ,Komm mit!‘ — dann dreht der sich einfach um und geht in die andere Richtung. Wir müssen erst die Pistole ziehen. Selbst die Kinder gehorchen uns nicht.“ Erst nach dem Fall Ceausescus seien viele Kinder auf dem Bahnhof aufgetaucht, ein Kollege müßte sich jetzt nur um die Kinder kümmern. „Wir nennen ihn den Kinderchef.“ Übrigens stehe gerade heute in seiner Morgenzeitung 'Dimineata‘, daß Brigitte Bardot ein rumänisches Baby adoptieren will.

Vasiles eitrige Wunde, die seit einem Jahr nicht heilt

Vor dem Bahnhof hinter den Kiosken der Blumenbinderinnen, halb versteckt hinter Büschen, an der Hauswand der Eisenbahnerpoliklinik, zwischen Hundekot und weggeworfenen Einwegspritzen sind die Kinder sicher vor der Bahnpolizei. Jonel, sechszehn Jahre alt, lebt seit fünf Jahren am Bahnhof. Er hockt im schmutzig schwarzen Wintermantel auf einer zusammengerollten roten Decke. Hin und wieder lehnt er sich an den grauen Spritzbeton der Hauswand zurück, rafft dabei seinen Umhang am Revers, um den zu großen Mantel enger um seinen Körper zu hüllen. „Die Polizei schlägt uns ohne Grund“, berichtet er, aber er habe eine große Kraft in sich. Einmal habe ihn ein „Zigeuner“ geschlagen, „da war ich so wütend, daß ich ein Erdbeben ausgelöst habe“.

Ohne jemals Englisch gelernt zu haben, spreche er fließend Englisch. Er ahmt den Tonfall und die Melodie der Sprache täuschend echt nach. „Ich gehe oft ins Kino und sehe amerikanische Abenteuerfilme, da habe ich das gelernt.“ Er wolle nicht wieder zurück ins Heim, er brauche eine eigene Wohnung, um Ruhe zum Nachdenken zu haben. „Ich kann lesen und schreiben, ich bin zur Schule gegangen, ich bin nicht so ein Vagabund wie die da“, zeigt er abfällig auf drei weitere Jungen. Der vierzehnjährige Vasile blinzelt aus dem Halbschatten eines Mauerloch der Hauswand. An seiner linken Hand glänzt eine eitrig-blutige Wunde. Vor einem Jahr wurde Vasile von einem Auto angefahren, die Verletzung ist bis heute nicht behandelt worden. Vasile teilt einige Weizenbrotkanten, eine Handvoll Walnüsse und die ersten Strahlen der morgendlichen Sonne mit den auf Zementboden liegenden Lica und Costel. Sie haben aufmerksam zugehört: „Ja, Jonel kann Fremdsprachen, Lesen und Schreiben, er ist intelligent, er ist unser Professor“, grinsen sie.

„Ja, wir lieben die Natur, aber hier ist alles kaputt“

Die fünfzehnjährige Stela, des Professors Freundin, kommt angerannt. Mit pinkfarbenen Bändern hat das Mädchen mit den braunen Augen ihre Haare zu abstehenden Pippi- Langstrumpf-Zöpfen gebunden. Sie lebt hier seit drei Jahren. Statt Schuhen trägt sie dicke, löchrige Wollsocken. „Wir haben auch einen Hund“, mischt sie sich stolz ein. „Wir haben Dixi aufgezogen und ihm sogar Milch gekauft. Jetzt hat er sechs Junge bekommen und ist unterwegs um Futter zu suchen.“

Von seiner roten Decke klagt der Professor: „Ja, wir lieben die Natur, aber seht, wie es hier aussieht. Alles ist kaputt. Seht in welchen Lumpen wir gekleidet sind. Wir sind nicht die Kinder der Menschen. Wir sind die Kinder Gottes, der sieht alles, was sie uns hier antun.“ Wenn die Polizei sie fange, würden sie ins „Centru“ gebracht und dort für zwanzig Tage eingesperrt. Sie dürften das Haus nicht verlassen. Sie würden von betrunkenen Erwachsenen geschlagen. Aus den Hilfssendungen stehle das Personal die gute Kleidung, mit dem Essen der Kinder würden sie ihre Schweine füttern. „Die Straße? Aron Florian Nr.5. Der Heimleiter heißt Odubescu. Sagt bloß nicht, daß ihr mit uns gesprochen hab.“

„Ufos“ heißen die Kinder, die ihren Namen nicht kennen

Nach der Räumung des Universitätsplatzes durch die Polizei vergangenen Sommer bevor die Bergarbeiter in der Stadt waren, „kamen Demonstranten hier durch das Tor, haben die Angestellten geschlagen und 110 Kinder befreit“, erinnert sich der Direktor George Odobescu in seinem aus Platzmangel in der Portiersloge untergebrachten Büro bei einer Tasse Dallmayr-Kaffee.

Das „Centru primire minou“ des „Ministeriums für Arbeit und sozialen Schutz“ ist ein Auffangheim für Kinder von drei bis siebzehn Jahren. Die Aron Florian ist eine Sackgasse, das „Centru“ ist das letzte Haus links. Warum gerade dieses Ministerium zuständig ist, weiß Odobescu auch nicht. „Sinnvoller wäre sicher das Innenministerium, schließlich bringt die Polizei die Kinder“, denkt er laut.

Von dem besetzten Universitätsplatz, der von den Demonstranten als vom „Neokommunismus befreite Zone“ erklärte Raum, hatte die Polizei 31 Kinder in das „Centru“ gebracht. Die meisten Kinder werden aber von der Bahnpolizei aufgegriffen.

Die Einrichtung sei für achtzig Kinder gedacht, manchmal müßten aber bis zu 200 Kindern auf die 78 Betten in den vier Schlafräumen verteilt werden. Dann schlafen zwei oder drei Kinder in einem Bett.“ Es

sind Kinder, die aus Waisenhäusern, Psychatrien oder von den Eltern abgehauen sind. „Wir haben jetzt über zehn Ufos dabei. Das sind die Kinder, die nicht wissen, woher sie kommen oder wie sie heißen.“ Eigentlich sollten die Kinder nur zehn Tage bleiben, bis sie zurück zu den Eltern oder in die Waisenhäuser transportiert werden, aber die durchschnittliche Verweildauer betrage 38 Tage, ein Kind sei schon seit August 1989 im „Centru“. Es fehle vor allem an Platz und sinnvollen Beschäftigungsmöglichkeiten, gibt der früh gealterte, engagierte Mann freimütig zu. Für alle Kinder gibt es nur einen einzigen Aufenthaltsraum von etwa sechzig Quadratmetern. Die älteren Kinder dürften nicht aus dem vergitterten Haus, weil sie sonst fliehen. Schulunterricht müßte im Treppenhaus abgehalten werden. „Es gibt zwar Schulbücher, aber keine Bänke, Hefte und Bleistifte.“

Neunzig Prozent der Kinder kämen mit Läusen, Geschlechtskrankheiten und Verdauungsproblemen aufgrund der schlechten Ernährung, aber sie hätten nur eine medizinische Assistentin. Bei schweren Fällen würden sie den Unfallwagen rufen, der komme aber nur einmal. Beim zweiten Mal wüßten die Fahrer, daß sie bei ihnen kein Schmiergeld erwarten können.

Aus dem Ausland wurde Hilfe versprochen. Sie haben den Kindern Schallplattenspieler und Fernseher angekündigt. Außer zum Teil verdorbener Lebensmittel, Kleidern und Medikamenten ist nichts angekommen. „Das ist eine Schande, den Kindern etwas zu versprechen, und dann war es nur Propaganda. Für die Kinder ist Ceausescu nicht tot.“

Die Kinder müssen Mittagsruhe halten. Bis auf einen Ufo, in der hintersten Ecke des Aufenthaltsraums, liegen die Eingesperrten mit ihren kurzgeschorenen Köpfen unter weißen Bettbezügen. Mädchen und Jungen sind nur schwer zu unterscheiden. Die Wände sind in einem beruhigenden Dunkelgrün gestrichen. In manchen Betten liegen zwei Kinder. Die Matratzen riechen nach Urin und Desinfikationsmitteln.

Im oberen Stockwerk liegt die zwölfjährige Clara. Sie ist von einem Zuhälter weggelaufen, der sie mit den Lösungsmitteln in der Goldfarbe Aurolac abhängig machte, zur Prostitution zwang und mißhandelte. „Die Polizei konnte ihm nur eine Geldstrafe geben, da sie ihn nicht im Flagranti erwischt hat“, wütet Odobescu, „man hätte ihn sofort aufhängen müssen!“

Vor dem Haus muß ein Junge mit einem gelben Strohbesen fegen. Ein Mann im blauen Kittel bewacht ihn und öffnet das Eisentor. Als er sich mit einem „Aufwiedersehen“ verabschiedet, riechen wir seine Alkoholfahne.

„Er hat sie zum Schwanzlutschen mitgenommen“

Jonel, der Professor, räkelt sich ausgestreckt auf der roten Decke: „Ich habe einen Zitronensaft getrunken und einen Kuchen gegessen. Die anderen sind in die Stadt ins Kino. Ich wollte gerade meinen Sonntagsvormittagsschlaf einlegen.“ Neben ihm sitzt Stela mit ihren Zöpfen. „Wie ein Teufel sieht sie so aus“, kritisiert der Professor. „Heute haben uns Nonnen Essen gebracht. Sie haben gefragt, wer lesen kann. Ich habe dann zwei Bibeln bekommen. Irgendjemand muß die aber schon wieder geklaut haben.“ Neugierig nähert sich ein schmächtiger Junge mit scheuem Blick. „Wie er heißt wissen wir nicht, wir nennen ihn den Stummen. Jonel hat ihm drei Wörter beigebracht: Vater, Mutter und Essen.“ „Ja“, ergänzt Jonel Stela, „er ist nicht wirklich stumm, er müßte in eine Sprachschule, aber er wird wie wir alle nachts von der Polizei geweckt, geschlagen und verscheucht.“ „Kommt schnell, kommt schnell“, unterbricht Stela. Die zwölfjährige Ana-Maria sei von einem Mann mitgenommen worden. „Der Mann hat gesagt, er ist Polizist. Sie muß ihm jetzt im Park in einem Gebüsch den Schwanz lutschen. Ich zeig euch, wo sie hingegangen sind.“

Am gleichen Vormittag wird in New York der erste Weltgipfel zum Wohle der Kinder eröffnet. Staatsoberhäupter und Regierungschefs aus 71 Ländern haben sich auf Einladung der Unicef versammelt. Ion Iliescu nutzt die Gelegenheit zu seiner ersten Reise ins westliche Ausland. In seiner Ansprache betonte der Präsident, daß die Entwicklung des Kindes eine gut durchdachte Strategie voraussetze, die zielstrebig in die Tat umgesetzt werden müßte. Die neue Verfassung Rumäniens versprach er, werde das Recht des Kindes auf Entwicklung festschreiben, sowie Mutter und Familie schützen.

Ein anderes Leben als auf dem Bahnsteig ist unvorstellbar

Auf einer Bank, auf dem Bahnsteig zwischen den Gleisen 2 und 3, sitzen links und rechts von einem geschnürten Zeitungsstapel ein Dieb und ein Tramp. Die beiden zwolfjährigen, Ion und Mihai, haben sich zufällig getroffen. Ion wohnt bei seinen Eltern in Ploiesti, sechzig Kilometer nördlich von Bukarest. Er wollte seine Tante besuchen. In der letzten Nacht wurde er von der Bahnpolizei in den Arrestraum gesperrt. „Ich hatte aber Papiere, sie ließen mich frei. Ich habe die Männer gefragt, warum sie die armen, elternlosen Kinder jagen? Weil sie spucken und klauen, haben die gesagt.“

Aus einem Postwagen hat Ion den Zeitungsstapel geklaut. Er will zurück nach Ploiesti, um ihn dort zu verkaufen.

Auf dem Bahngleis 3 klettern Reisende durch die Fenster der Wagons. Der Zug ist völlig überfüllt, Männer und Frauen stehen auf den Trittbrettern und klammern sich an der Tür fest, der Zug fährt ab. Die rumänischen Schaffner — sie heißen die Paten, weil sie gegen eine Bestechung auf die Fahrkarte verzichten — spähen aus dem schnell vorbeirollenden Gepäckwagen.

Mihai, der Tramp auf der anderen Seite des gestohlenen Zeitungsstapels, wurde von seinem Vater in ein Waisenheim gebracht. Er ist dort weggelaufen, weil die älteren Kinder ihn verprügelt haben. Eigentlich kommt er aus Hermannstadt, aber er ist immer mit der Bahn zwischen allen Städten Rumäniens unterwegs. Aurolac habe er früher auch geschnüffelt, jetzt lehne er das aber genauso wie das Klauen ab. In ein Waisenheim will er auf keinen Fall zurück: „Ich will mich allein durch das Leben schlagen.“

Auf einem Gepäckwagen neben dem Kiosk sitzt Visinel. Er hat seit drei Jahren seinen festen Wohnsitz zwischen den Gleisen 2 und 3. „Ich bin mit vier Jahren in ein Waisenheim bei Tirgu Ocna gekommen. Danach kam ich in ein Heim in Ploiesti, in der Nedelea Nr.7. Ich bin ausgerissen“, faßt der dreizehnjährige den bisherigen Lebenslauf zusammen. Sein Vorteil gegenüber den anderen Bahnhofskindern ist eine Verkäuferin aus dem Bahnsteigkiosk. Sie gibt ihm zu essen. Obwohl die Läuse über seine kurzgeschnittenen Haare laufen, er nach Urin stinkt und sein Trainingsanzug zerrissen ist, wirkt Visinel vergleichbar gepflegt. Er schnüffelt keinen Aurolac, ist bis zur fünften Klasse zur Schule gegangen und kann lesen und schreiben.

Neben ihm sitzt ein Mann aus Bráila. Er teilt sein Brötchen mit dem Kind. Er könne Visinel verstehen, er sei auch in großer Armut aufgewachsen, er habe nur das Glück gehabt, daß seine Eltern ihn nicht weggegeben hätten. Diese Bahnhofskinder gäbe es überall in Rumänen, zum Beispiel auch in Bráila oder Constanta. Die Kinder hätten später keine Überlebenschance, wenn sie nicht in eine Bande aus Dieben und Verbrechern aufgenommen werden. „Hast du Freunde unter den Bahnhofskindern?“ fragt der Reisende aus Bráila. Visinel schüttelt den verlausten Kopf: „Nein.“ „Spielt ihr Kinder miteinander?“ „Nein, ganz selten, aber es gibt oft Schlägereien.“ „Kannst du dir anderes Leben als auf dem Bahnsteig vorstellen?“ Das Kind denkt nach, sein trauriger Blick ist zum Weinen: „Nein.“

Goldlack schnüffeln gegen epileptische Anfälle

Zwischen dem Haupteingang des Nordbahnhofs und dem Verkehrsministerium liegt der Duca-Park. Direkt an der Straße lagert auf Decken, zwischen Bündeln und Flaschen Maria „die Mutter aller Kinder“, wie der Professor die dicke Alkoholikerin vorstellt. „Ceausescu und Iliescu sind dasselbe“, flucht sie, springt auf und nimmt eine drohende Haltung ein. Der Professor hat keine Angst: „Viele sagen, sie sei verrückt, aber sie ist nur nervenkrankt, wie viele Menschen. Sie war deshalb in einer Nervenheilanstalt. Neben ihr, das ist ihre Tochter Alexandra. Komm her!“, ruft er das zierliche Mädchen, das sich an ihn schmiegt. „Sie ist leider mit Quecksilber vergiftet, deshalb wächst sie nicht mehr“, bedauert er das Kind.

Die Blumenbinderinnen, Romafrauen aus Boldeni, verkaufen seit sieben Jahren am Bahnhof. Ihr mit Silberbronze gestrichener Stand klemmt sich an den schmiedeisernen Zaun der Eisenbahnerpoliklinik. Sie kennen die Bahnhofskinder. Die Frauen geben ihnen zu essen und sind eine Art Gepäckaufbewahrung für den Professor, Stela und die Anderen. „Du mußt ihnen auch vom Aurolac erzählen“, schimpfen sie mit dem Professor. Sein grünes Sweatshirt ist mit goldener Farbe bekleckert. „Hört auf damit. Aurolac ist gut für mich. Weil ich Epileptiker bin, haben sie mir in der Anstalt immer Medikamente gespritzt. Das brauche ich seit zwei Jahren nicht mehr. Ich habe jetzt Aurolac. Also hört auf.“ Wütend verschwindet er. „Alle schnüffeln sie jeden Tag den Goldlack. Sie sind dann wie verwandelt. Die Mädchen ficken für 10 bis 15 Lei (zirka 20 Pfennig) mit alten Männern, Taxichauffeuren und Lastwagenfahrern.“ Der Professor sei berauscht wirklich gefährlich, sie hätten Angst vor ihm. Er pinkle ihnen neben den Blumenstand, einmal habe er sogar alle Blumen zerrissen. „Wenn der im Rausch ist, kann er jemanden ermorden!“

Als sie hier anfingen zu arbeiten, taten ihnen die Kinder leid. Sie hätten oft nachts geweint. „Wir als Zigeuner lieben Kinder sehr.“ Einmal hätten sie ein Mädchen mitgenommen. „Wir haben es gebadet und umsorgt.“ Nach ein paar Tagen habe es zurück zum Bahnhof gewollt. Diesen Kindern sei nicht mehr zu helfen, sie seien von dem Leben auf dem Bahnhof verroht und verwildert. „Aber ihr müßt Medikamente aus dem Westen bringen, damit sie vom Aurolac loskommen.“

Aufgeregt zeigen sie auf der anderen Straßenseite: „Da, in der weißen Jacke, das ist der Mann, der den Kindern den Aurolac für den zehnfachen Ladenpreis verkauft. Er mißbraucht auch eins der Mädchen.“ Der fünfzigjährige Mann mit Schlips und weißem Kragen verhandelt mit einer Gruppe in abenteuerliche Lumpen gehüllter Kinder. Nach den ersten Fotos verschwindet der Mann, die Kinder begrüßen uns lachend. Wir sind inzwischen bekannt. Sie bauen sich zum Gruppenfoto auf und verstecken die Plastiktüten mit Aurolac unter den Jacken, in den Händen. Bei den ersten Fotos sammeln sich sofort wieder Passaten, die aggressiv schreien: „Diese golans (Taugenichtse) sollt ihr nicht fotografieren.“ Männer tuscheln, rücken zusammen, ballen die Fäuste. „Mit denen kann ich nicht mehr reden“, schätzt Doina die sich zuspitzende Situation ein, „laß uns weglaufen.“

Zuhälter und Dealer kommen ungeschoren davon

Der Kinderchef der Bahnpolizist ist hat die die Statur eines durchtrainierten Schwergewichtsboxers. Er hat Angst. Nervös zieht er an seiner bulgarischen Zigarette. Dreimal in zehn Minuten verläßt er den Raum, um bei seinem Chef nachzufragen, ob er eine Information geben darf. Sein Schreibtisch steht in einem grau gestrichenen Holzverschlag ohne Außenfenster, eine Neonröhre beleuchtet zwei Stahlschränke, ein Motorradkalender und das Poster einer halbnackten Japanerin im Ledertanga. Er will nicht sagen, wieviele Beamte bei der Bahnpolizei arbeiten, wieviel sie verdienen, und wir sollen auf keinen Fall seinen Namen erwähnen. Ob er selbst Kinder habe spiele keine Rolle. Aus einem Stahlschrank kramt er ein schwarzes Buch, legt es auf die cordbezogene Schreibtischplatte und trägt seine handschriftliche Buchführung vor: 467 Kinder wurden in diesem Jahr aufgegriffen, davon wurden 283 ins „Centru“ gebracht, 184 zurück in die Familien. Nur 34 der Kinder wurden bei Diebstählen erwischt.

Warum verhaftet die Polizei nicht den Aurolac-Dealer, warum wird nichts gegen die Zuhälter und die Erwachsenen, die Kinder in Banden organisieren unternommen? „Dazu haben wir keine Zeit. Hier gibt es gefährliche Räuber und Verbrecher.“ Außerdem würden sie nur im Bahnhof arbeiten, die Zuhälter und Dealer seien aber vor dem Bahnhof.

Die Eltern im Gefängnis und den kleinen Bruder sich selbst überlassen

Durch die Bahnhofshalle, vorbei an dem Friseur und der Bahnpolizei schlendert der fünfjährige Florin in einem abgewetzten Jacket. Narben auf der Stirn und ein krummes Nasenbein lassen die Schläge erkennen, die er schon einstecken mußte. Er kann keine vollständigen Sätze sprechen, er ist auf dem Entwicklungsstand eines Dreijährigen. Er stoppt vor der gelten Tafel mit den blauen, roten und schwarzen Steckbuchstaben. Hier werden die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge angegeben. Die Buchstaben in den unteren Reihen, in Kinderhöhe, sind völlig durcheinander. Er greift zu einem roten A, rüttelt und wird verscheucht.

Unbeeindruckt wechselt er die Richtung, turnt unter den Prellböcken des Sackbahnhofs auf das Gleis 3 und sucht zwischen den Schienen weggeworfene Zigarettenkippen. Auf dem Bahnsteig bittet er die Wartenden um Feuer.

Sein zwei Jahre älterer Bruder Catalin sitzt auf der letzten überdachten Bank neben einer alten Frau. Sie trägt einen weiten langen Rock, eine tiefdekoltierte, geblümte Bluse und ein geflochtenes, farbloses Band in den ungekämmten, grauen Haaren. Auch Catalin ist nicht gesprächig. „Wir sind aus dem Waisenhaus abgehauen, unsere Eltern sind im Gefängnis. Wir schlafen auf dem Bahnhof. Nein, ich kümmere mich nicht um meinen kleinen Bruder, wir sind beide allein hier.“ Mehr will er nicht erzählen.

Die alte verwirrte Frau will nach Temeswar, um für acht Monate ihre Rente abzuholen. Das klingt unwahrscheinlich, zumal sie kein Gepäck dabei hat. Sie zeigt Florin ein Paßbild aus der Zeit, als sie eine sehr schöne, junge Frau war. „Das bist du?“ rückt er dicht an sie heran. Sie nickt mit dem Kopf. „Soll ich euch mitnehmen und für euch sorgen?“ will sie auf einmal von den Brüdern wissen. „Ja!“ antworten beide sofort. Die Grauhaarige beginnt mit klarer und melodischer Stimme ein altes rumänisches Volkslied zu singen. „Komm nach Haus'“, heißt es im Refrain. Aus Westen, der Fahrtrichtung aller Züge, taucht die untergehende Sonne die bläulichen Schatten der Dämmerung auf den Bahnsteigen in rötliches Licht.

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