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Mit Blaulicht den Dienstplan kopiert

■ Wie Wolfgang Hainke in Lodz aus polnischen Menschen, fünf Kopierern und 100.000 Blatt Papier eine „soziale Plastik“ gebaut hat

Sonntag früh, 7. Oktober 1990: An der deutsch-polnischen Grenze bei Frankfurt/Oder wartet eine lange Reihe von LKW vor dem Zoll auf Abfertigung. Zwischen den Lastzügen und einem russischen Militärkonvoi eingeklemmt: Ein Mietlaster aus Bremen, vollgepackt mit fünf Fotokopiergeräten von Toshiba, 100.000 Blatt Kopierpapier, einer großen Kaffeemaschine und einer Ladung Kaffee von Jacobs. Zwei Männer und eine Frau bringen die Fuhre unkontrolliert über die Grenze auf dem Weg nach Lodz, der bröckelnden Textilmetropole im Innern Polens.

Montags früh reiben sich Passanten auf der Haupteinkaufsstraße Piotrkowska die Augen: Ein Copyshop ist über Nacht entstanden, mit Kaffeeausschank. Und unglaublich: Kopieren und Kaffee sind frei, es gibt keinerlei Beschränkung, einzige Bedingung ist, daß jeder Kunde eine Kopie abgeben muß. Der Laden ist rund um die Uhr offen.

Bis vor zwei Jahren war Kopieren in Polen verboten. Heute sind Kopierpreise oft unerschwinglich. Eine kapitalistische Provokation der frischgebackenen Marktwirtschaftler? Eine PR- Aktion von Toshiba? Trickbetrug mit finanziellen Folgen? Nein! Durch stündliche Durchsagen im Radio sind viele Lodzer vorgewarnt: Es geht um Kunst.

„Construction in Progress“ lautet ein Projekt der Lodzer Kunst- und Kulturszene mit Unterstützung von Woiwodschaft und Solidarnosz. Organisiert wird es, nachdem es bereits einmal in Lodz und in München stattfand, von dem Exilpolen und Experimentalfilmer Ryszard Wasko.

100 internationale KünstlerInnen trafen sich diesmal in Polen,

hierhin bitte

die zwei Männer

Wolfgang Hainke am Kopierer. Links neben ihm in Soutane ein Priester, womöglich beim Klonen einer neuen Privat-Enzyklika

um während zehn „working days“ für die Stadt und deren Menschen, in einem sozialen Zusammenhang also, Kunst zu machen. Voraussetzung: öffentliches Arbeiten und neue Aktionen. Unter den Beteiligten Namen wie Klaus Geldmacher, Jochen Gerz, Klaus Staeck, Lawrence Weiner, Emmet Williams. Und im Bremer LKW saßen Wolfgang Hainke aus Ganderkesee mit seinen „AssistentInnen“ Ann Noel und Bernd Eickhorst (Fotos).

Hainke, gefragter Konzept- und Copy-Artist mit einem Händchen für den Umgang mit Sponsoren, hatte das Equipment für seinen „Copy-Shop“ Bremer Industriellen und die Transportkosten dem Senator aus dem Kreuz geleiert. Sein Prinzip: Für einen bestimmten Ort und für eine bestimmte Zeit eine Situation installieren, die ruhig für das Publikum eine Zumutung ist: für den Künstler selbst sind zehn Tage Schlaflosigkeit allemal eine Zumutung. „Sich einer Situation ernsthaft ausliefern: Das verstehen die Leute“, sagt Hainke.

Die Aktion schlug mit Macht ein. Die Menschen kamen zu Tausenden. „Morgens kamen die Alten, mittags die Schüler, nachmittags die Studenten und abends die Punker“, erzählt Hainke. Ein alter Herr kopierte die Unterlagen über seine Zeit im KZ, die er für die Rente brauchte. (Er hatte 40 Jahre kein Deutsch mehr gesprochen.) Kinder legten ihre Stars zwecks Vergrößerung auf die Glasplatte. Oder ihre Hände, ihre Gesichter.

Studenten hatten ihrer Professorin ein Lehrbuch entwendet, das sie nie jemandem gezeigt hatte. Bücher von 1.000 Seiten wurde in stundenlanger Arbeit kopiert, Geschäftsleute kopierten ihre Bilanzen, andere Kopierläden ihre Reklamezettel, Priester kamen, Soldaten, Punker erhöhten die Auflage ihrer Untergrundzeitschrift, und vor dem Laden bildeten sich (die notorischen) Schlangen. Was den mit Blaulicht herbeigeeilten Polizeichef nicht davon abhielt, sich vorzudrängen, um seinen Dienstplan zu kopieren.

Menschen trafen sich im Copyshop, die mit Kunst nie in Kontakt gekommen wären. Hainke geht nicht davon aus, daß sie die Aktion verstanden haben, die selbst im Westen vermutlich viele befremdet hätte. Und doch bekamen sie eine Ahnung von einem Kunstbegriff, der sich weitgehend von Produkten löst: Eine bestimmte künstlerische Haltung wird wichtiger. „Soziale Plastik“ nannte Beuys sowas. A joint-ad- venture / art & life ist der Titel dieser „gelebten Installation“; noch nie seien Kunst und Leben bei ihm so zur Deckung gekommen wie in Lodz, sagt der Künstler.

Mit den einbehaltenen Kopien und eigenen Arbeiten tapezierte das Copy-Shop-Team den Laden, in dem sonst Jeans verkauft werden. Baldwar der Copy Shop auch zum Treffpunkt der anderen an „Construction in Progress“ beteiligten KünstlerInnen geworden. Überwältigend war das Medienecho: Fersehteams und Zeitungsleute gaben sich die Klinke in die Hand.

Letzte Woche kam Hainke von

hierhin bitte die

finstere Schaufenster-Szene

Der Copy-Shop von drauß gesehn: Als Machenschaft aus Licht und Schatten. Links den im Dunklen sieht man nicht.

seinem zweiten Lodz-Aufenthalt zurück. In einer, wie er es nennt, Postman-Performance suchte er mit einer Grafik-Edition zum „Copy Shop“ seine damaligen Kunden persönlich auf, um ihnen seine Arbeit zu überreichen. Seine nicht museumsverwertbare Ausstattung des Jeansladens ist erhalten. Wieder zu Hause, sitzt Hainke jetzt daran, Spuren seiner leicht flüchtigen Aktion zu si

chern. Ein Buch entsteht, eine Dokumentation mit Texten, Fotos, Kopien aus dem „Gästebuch“ und Original-Kopien, die seine polnische Kundschaft zurückließ.

Andere Spuren sind ungesichert wie die der Ökonomiestudentin, die von der Aktion so bewegt wurde, daß sie jetzt ein künstlerisches Fach studiert. Burkhard Straßmann

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