piwik no script img

Berliner Straßennamen in Ost und West

■ Der Utopist der Französischen Revolution muß weg, der Nazipropagandist darf bleiben

Bilderstürmerei auf den Straßenschildern im Osten: Nicht nur Marx und seine Möchtegernnachfolger müssen weg, auch Sozialdemokrat Bebel und fremde Nationalhelden wie Ho Chi Minh oder Indira Gandhi. Alles, was links ist oder dafür gehalten wird, soll verdammt werden — so möchte es die Volksseele, die zum (Protest)-Kuli greift. Deutsche Vergangenheitsbewältigung in Reinkultur. Die besonnenen Zeitgenossen fragte keiner.

Im Ostteil Berlins haben bisher fehlende finanzielle Mittel kaum eine Entscheidung spruchreif werden lassen. Immerhin sind 20.000 DM aus dem nicht vorhandenen Haushalt des jeweiligen Bezirksamts bei einer mittleren Straße locker zu machen — das sind allein die Kosten für die Schilder, die Kosten für Post und Anlieger gar nicht gerechnet. Pro Schild werden 160 Mark fällig. Weißensee scheint genug Geld zu haben. Die Klement-Gottwald-Allee heißt nächstens wieder Berliner Straße. Ansonsten gebietet die Geldknappheit besonnenes Handeln. Die Ausnahme: die Timbaud- und die Babeufstraße in Friedrichshain. Die Anwohner sind dort schon drauf und dran, die alten Schilder zu befestigen und die Kosten selber zu tragen.

Die einen — meist Auswärtige und vor allem französische Kommunisten — möchten die Namen des Resistancekämpfers Jean-Pierre Timbaud und des Utopisten der Französischen Revolution, Jean-Noel Babeuf, behalten und eine imaginäre Verbundenheit mit Frankreich symbolisiert wissen. Andere schwören auf die traditionell gewachsene Bezeichnung, vormals Rüdersdorfer bzw. Fredersdorfer Straße: »Baböff, keener weeß, wie man det schreibt!« Erst im Sommer 89 waren die Straßen von Schabowski und Co. anläßlich des Besuchs einer Delegation der französischen kommunistischen Partei umbenannt worden. Herhalten sollten ursprünglich zwei jungfräuliche Wege in Altglienicke. In der dortigen Trabantenstadt hatte aber das volkseigene Wohnungsbaukombinat nur eine Mond(Bau)landschaft hinterlassen. Als vorzeigbarer Rahmen der Zeremonie gänzlich ungeeignet. Bei Nässe wäre das Chaos für die automobilgewohnten Funktionäre perfekt gewesen. Die weitere Suche nach einem geeigneten Terrain in Lichtenberg stieß auf massive Bürgerproteste. So fiel die endgültige Wahl auf die Rüdersdorfer bzw. Fredersdorfer Straße in Friedrichshain — unmittelbar am Verlags- und Redaktionsgebäude des 'Neuen Deutschland‘ gelegen und somit fast ein Heimspiel für die SED-Oberen im spannungsgeladenen 89er Sommer. Auf bestellte Claqueure wurde trotzdem nicht verzichtet. Am 19. Juni lief der Coup über die Bühne. Der Stadtbezirksbürgermeister erfuhrs vier Tage vorher, die Anwohner hinterher — und sind seitdem vergnatzt.

»Gegen die beiden Franzosen haben die wenigsten etwas«, meint Stadtrat Gerd Hannemann (CDU), Chef für Bauen und Wohnen im Friedrichshainer Bezirksamt. Er steht der Kommission von Stadtbezirksparlamentariern vor, die sich mit den Rückbenennungsproblemen befassen. Das Timbaud-/Babeuf- Problem ist derzeit von der BVV vertagt.

Bleiben werden die Namen von aktiven Nazibekämpfern. Darüber ist man sich laut Hannemann über Fraktionsgrenzen hinweg einig. Pech für die Gegner von Richard Sorge und Erich Mühsam. Ihre Angebote »Rommelstraße«, »Bergmann-Pohl« etc. bleiben glücklicherweise Totgeburten.

Anders bei eingefleischten Stalinisten, wie General Alexander Kotikow. Als zweiter Stadtkommandant des Berliner Ostsektors wurde er bisher als Wohltäter gefeiert. Bis zu seinem Tod 1981 war er Ehrenbürger von Ost-Berlin. Mittlerweile stellte sich heraus, daß er nicht nur hungernde Berliner aus Beständen der Roten Armee versorgte, sondern auch Schlägertrupps gegen Bezirksversammlungen organisierte. Auch die Rückbenennung des Kotikowplatzes in Petersburger Platz ist nur noch eine Frage der Finanzen. Zukünftig will man sich bei Neubenennungen an Landschaften, Städten, Nationen und politisch unverfänglichen Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst orientieren. Ein Platz der Vereinten Nationen ist dabei für den Leninplatz im Gespräch. Originellster Gegenvorschlag: ein Donald-Duck-Platz mit ebenbürtiger Statue. »Wir müssen davon abkommen, daß jeder politische Machthaber Örtlichkeiten mit ihm genehmen Namen neu versieht. Diese typisch deutsche Tradition muß ein Ende haben!« — markige Worte des christdemokratischen Stadtrats. Und wie steht's mit der Karl-Marx-Allee? Persönlich habe Hannemann mit ihr keine Probleme.

Anders sein Kollege Volker Hobrack (SPD) aus Mitte. Für ihn war die Allee hauptsächlich Aufmarschplatz der Huldigungsdemonstrationen und der Militärparaden. Und auch die sich schnell zur Einkaufsmeile mausernde Wilhelm-Pieck-Straße bereitet dem SPDler zunehmend Kopfzerbrechen. Hier schaukeln sich langsam aber stetig die Gemüter hoch. Pieck, der treusorgende Landesvater oder der stalinistische Befehlsempfänger? Steffen Knoblau

In den westlichen Bezirken liegen ebenfalls zahlreiche Straßen, über deren Umbenennung nachgedacht werden sollte. Es handelt sich hier in erster Linie um Straßen, die von 1933 bis 1945 benannt oder umbenannt worden sind. So wird in den Ausschüssen der Wilmersdorfer BVV gerade darüber diskutiert, ob der im Grunewald gelegene Seebergsteig in Walter-Benjamin-Straße umbenannt wird.

Seit dem 14. April 1936 trägt die Straße den Namen des heute unbekannten Reinhold Seebergs, der getrost als Kriegshetzer und Wegbereiter des Nationalsozialismus bezeichnet werden kann. Die Nazis hatten sich damals schon etwas dabei gedacht, als sie gleich nach der »Machtergreifung« 1933 zahlreiche Straßen umbenannten, um Berlin ihren Stempel aufzudrücken. Im Grunewald wurden gezielt Straßen umbenannt, die die Namen von jüdischen Mitbürgern trugen. So kam es 1936 auch zu der Umbenennung der damaligen Dunckerstraße, benannt nach dem linksliberalen Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei und der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, in Seebergsteig.

Reinhold Seeberg, geboren 5. 4. 1859 in Pörrafer/Livland/Baltikum, gestorben 23. 10. 1935 in Ahrenshoop: evangelischer Theologe und Hauptgestalt der konservativ-positiven Richtung, von 1898 bis 1932 war er Professor an der Berliner Universität; 1923 bis 1932 Präsident des Central-Ausschusses der Inneren Mission; seit 1910 Vorsitzender der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz. Er lebte zeitweise in der Joachim-Friedrich-Straße 52 in Wilmersdorf.

Was machen die Lehren von Reinhold Seeberg? In manchen theologischen Lehrbüchern als beachtlicher Religionsphilosoph gelobt, ergibt die Lektüre seiner Reden und Aufsätze aber das Bild eines nationalistischen evangelischen Theologen, der kurz vor und im Ersten Weltkrieg seine wichtigste Aufgabe darin sah, den Krieg als heiligstes Mittel des Kulturfortschritts zu propagieren, denn nur durch ihn könne der höherwertigen deutschen Kultur gegenüber der minderwertigen der Engländer zum Durchbruch verholfen werden. Die Titel einiger seiner Schriften Das sittliche Recht des Krieges (1914), Krieg und Kulturfortschritt (1915), Der Krieg und die allgemeine Menschenliebe (1915). In Krieg und Kulturfortschritt schreibt er:

Gewiß, es sterben viele, Leben wird zerstört. Aber es wird auch tiefstes Leben des Geistes künftigen Generationen eröffnet. Wenn je aus Blut Lebenssaat hervorgeht, so wird aus dem Blute derer, die jetzt für das Vaterland sterben, Lebenssaat, Kulturleben emporsprießen. Wenn unsere deutsche Kultur sich frei entfalten, wenn sie ihren Ertrag und ihre Anregung für die ganze Welt ergießen kann — was ist das für ein positiver Erfolg!

Zahlreiche Theologen, Historiker, Philosophen und Philologen haben sich damals in nationaler Verblendung in den Dienst des Krieges gestellt und ihn als nationale Befreiung oder sogar als notwendig zum Fortschritt dargestellt. Seeberg war eine ihrer wichtigsten Personen. Er war wohl auch das profilierteste Mitglied des »Unabhängigen Ausschusses für einen deutschen Frieden«, der sich bis zum Ende des Krieges für eine radikale Annektionspolitik des Deutschen Reiches eingesetzt hat und sowohl Gebietsansprüche nach Westen (Belgien) wie auch nach Osten (Rußland) stellte. Belgien sollte unter »deutsche Oberleitung« kommen, in Rußland sollte »Raum für planmäßige deutsche Siedlung« erobert werden.

Man wird daher dem Theologen Günter Brakelmann zustimmen können, der 1974 zu dem Ergebnis kam, daß Reinhold Seeberg der Theologe des deutschen Imperialismus war, der die ethische Legitimation für annexionistische und diktatorische Praxis lieferte.

Doch nicht nur diese Haltung wird für die Nazis der Grund gewesen sein, Seeberg durch eine Straßenbenennung zu ehren. Rassegedanken und Vorurteile gegen Juden gehörten ebenfalls zur Ideologie Seebergs.

Der Germane ist nie ein Herdenmensch gewesen, der sich fügt, der nachahmt, was andere tun, der dem Willen des Vorgesetzten ‘sans phrase‚ sich beugt. Das war nie germanische Art. Der Germane hat ein stolzes Gefühl seiner selbst, Achtung vor sich selbst, wie schon der stolze, aufrechte Gang, das offene, blaue Auge, der Langschädel äußerlich diesen Eindruck machen.

Dies schrieb Seeberg schon 1914 in Christentum und Germanentum. Zwanzig Jahre später geht er dann im System der christlichen Ethik explizit gegen die Juden vor.

Die Judenfrage hat ein doppeltes Gesicht. Einmal ist es die stark ausgeprägte rassenhafte Anlage, die in vielfachem Gegensatz zur deutschen Art steht. Dann ist es aber die besondere Prägung des jüdischen Geistes, die ein Produkt der Geschichte des Judentums ist. Beides zusammen hat zur Folge, daß die Juden sich nicht dem Volk, unter dem sie leben, wirklich einzugliedern vermögen. Das zeigt sich darin, daß die Juden gegenüber dem Gemeingeist des Volkes Vertreter des Individualismus oder des ihm entsprechenden Demokratismus sind. Das ergibt sich aus ihrer Lage im Volk. Da sie in ihm leben und doch nicht zur Einheit mit ihm gelangen, andererseits ein lebhaftes Interesse an der Gleichberechtigung mit den Volksgliedern haben, so tritt mit Notwendigkeit das Bestreben ein, die Einheit des völkischen Bewußtseins zu zersetzen und dafür den Individualismus durchzusetzen.

Reinhold Seeberg starb 1935. Im Prominenten-Ostseebad Ahrenshoop wurde er dort vom nationalsozialistischen »Reichsbischof« Ludwig Müller zu Grabe getragen. Ob Seeberg Mitglied der NSDAP war, ist unbekannt. Die Nazis konnten ihn jedoch als einen der Theoretiker in Anspruch nehmen, die die Verbindung zwischen dem evangelischen Christentum und dem Nationalsozialismus herstellten. Sein Sohn Erich Seeberg beschrieb dies 1935 in sehr anschaulicher Form im Vorwort zu System der christlichen Ethik:

Diese Ethik ist unter den theologischen Büchern bis heute etwas Einzigartiges. Denn hier wird der Versuch gewagt, die nationalsozialistischen Grundanschauungen in Bezug auf Recht, Staat, Wirtschaft, Erziehung und Sozialpolitik selbst nachzuzeichnen und in kritischer Darstellung zu beweisen, daß eine christliche Sozialethik sich besser und richtiger auf einer nationalsozialistisch geformten Grundlage der Schöpfungsordnungen entwickeln läßt, als auf dem Boden von demokratisch oder liberalistisch gestalteten Lebensordnungen...

Der Rassegedanke, aus dem Baltikum wie selbstverständlich übernommen; der Nationalismus, im großen Krieg erlebt und in manchen politischen Kämpfen bewährt; der Glaube an die Macht der Gemeinschaft, die vor dem einzelnen steht...; die in den eigenen Lebensschicksalen tief gegründete Abneigung gegen Liberalismus und Demokratie — all das hat diesen Mann aus der von uns gegangenen Generation mit der Jugend des heutigen Deutschland verbunden.«

Erich Seeberg hatte recht. Er konnte seinen Vater tatsächlich als einen Wegbereiter nationalsozialistischer Ideologie und Praxis feiern.

Vorgeschlagen ist jetzt Walter- Benjamin-Straße, um an einen jüdischen Mitbürger Wilmersdorfs zu erinnern, der einer der berühmtesten Literaturkritiker der zwanziger Jahre war, der 1933 vor den Nazis flüchten mußte und 1940 aus Furcht vor Auslieferung an die Deutschen im französischen Exil Selbstmord beging. Jürgen Karwelat

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen