piwik no script img

Neue Nachbarn für die »Rentnerspatzen«

■ Der Spandauer »Nachbarschaftsverein Siemensstadt« hat das Erbe der DDR-»Volkssolidarität« in Oranienburg übernommen

Oranienburg. »Heimatland, schönes Land, schau wie das Abendrot am Himmel steht«, singen die Oranienburger »Rentnerspatzen«. Die sieben alten Damen und der einzige Herr sind voll Inbrunst dabei. Die Senioren im Klubsaal mit dem typischen DDR-Wohnzimmer-Ambiente in Braun- und Gelbtönen lauschen andächtig.

Dann geht's per Potpourri auf musikalische Europareise: zur Julischka nach Budapest, zu den Capri- Fischern, nach Schottland — und schließlich gibt's »Heimweh nach dem Kurfürstendamm«. Apropos Ku'damm: Kurz darauf sagt eine der Sängerinnen, nach West-Berlin mit der S-Bahn traue sie sich nicht mehr, zu unsicher seien die Zeiten. Man brauche ja nur die Zeitung aufzuschlagen: Verbrechen über Verbrechen.

Seniorenalltag in Oranienburg. Das Klubhaus unweit vom Stadtzentrum hat sich kaum verändert. Die DDR-Wohlfahrtsorganisation »Volkssolidarität« gibt es nicht mehr, die alte Klubleiterin hat abtreten müssen, eine andere, schon in den Ruhestand geschickte Volkssolidaritätsleiterin, Helga Stelter, wurde wieder aktiviert. Unter ihrer Leitung wird nun weitergehäkelt, gesungen, getanzt; und wer Hilfe, Pflege, Haushaltsunterstützung braucht, findet diese hier auch wieder.

Gewestete Sozialstation

Oranienburg hat Glück gehabt: Irgendwann im Februar 1990 sind Mitarbeiter des »Nachbarschaftsvereins Siemensstadt« aus dem gut 20 Kilometer entfernten Spandau einfach unangemeldet hereingeschneit. Das Ende der »Volkssolidarität« war schon vorhersehbar, die zahlreichen Gemeindeschwestern und Haushaltshilfen — unerläßlich für Senioren, die nicht in Heime abgeschoben werden wollen — bangten um ihre Zukunft.

Rechtlich und finanziell noch völlig ohne Grundlage begann die Kooperation zwischen dem Spandauer Verein, der in Siemensstadt eine Sozialstation und umfangreiche Jugend-, Selbsthilfe und Nachbarschaftsangebote betreibt.

Auf diese Weise entwickelten Ost und West im Verlauf von wenigen Monaten ein Modell, um den völligen Zusammenbruch der gesundheitlichen und sozialen Betreuung alter Menschen in der fast mittellosen Kreisstadt zu verhindern. Zwölf Krankenschwestern und 47 Hauswirtschaftshelferinnen konnten ihre Jobs behalten. Das sind allerdings nur noch rund 50 Prozent der zuvor vorhandenen Gemeindeschwestern und Haushaltspflegekräfte.

Entstanden ist so nun eine Sozialstation nach Westberliner Vorbild. Die Stadt alleine, das räumt deren Pressesprecher Norbert Barowksi ein, hätte die Leistungen der »Volkssolidarität« nicht retten können.

Die Arbeit wird nun über Krankenkassenpflegesätze beziehungsweise über Sozialhilfe oder Eigentumsbeteiligung der Betreuten abgerechnet. Insgesamt untestützt der Nachbarschaftsverein, der sich seit seiner Ost-Expansion »Domino e.V.« nennt, nun immer noch über 300 Senioren und Kranke zu Hause in ihrer Wohnung. Der Übergang in den Kapitalismus, das heißt in die Sozial- und Pflegewirtschaft mit Kostenabrechnung, hat allerdings bewirkt, daß nicht mehr alle Senioren kostenlos die sozialen Leistungen bekommen können.

Die Gemeindeschwestern, die per Fahrrad mit der Milchkanne Essen für 80 Pfennig in Oranienburg und Umgebung ausfuhren, gibt es nicht mehr. »Domino« hat allerdings schnell erkannt, daß ohne diese lebenswichtige Dienstleistung alte Menschen nicht zu Hause in ihren eigenen vier Wänden bleiben können. Jetzt machen motorisierte Mitarbeiter in zehn »Fiestas« die Arbeit.

Die Senioren können zwischen verschiedenen Tiefkühlkostmenues wählen. Früher — dank Milchkanne — gab es zumeist nur Eintopfartiges, das wegen der komplizierten langen Anfahrten zumeist kalt bei den Essern ankam. Heute kriegen die Senioren ihr Essen zwar schmackhafter und warm — aber für stolze 4,50 Mark. Und demnächst wird es noch teurer werden.

Offene Seniorenarbeit

Zudem bieten östliche und westliche Mitarbeiter zusammen Essen auf Rädern, Sozialhilfeberatung, psychosoziale Beratung und Familienpflege an. Daß der Seniorenclub überlebt hat, ist fast schon ein kleines Wunder. Denn für offene Seniorenarbeit gibt es keine Kostenübernahme. Der Verein aus Siemensstadt finanziert den Klub deshalb bisher notgedrungen aus Eigenmitteln mit.

Ein Angebot, daß dankbar angenommen wird. Besonders beeindruckt sind die älteren Leute vor allem davon, daß nun jeder aus seinem Ortsteil einfach kommen kann. Zu SED-Zeiten gab es für Seniorenfreizeitangebote noch ein kompliziertes und bürokratisches Kartenverteilsystem — nebst »Rotlichtbestrahlung«. Allerdings nur zwei der neun bestehenden Klubs im Kreis hat »Domino« vor dem Ende bewahren können. Ein Grund, warum sich die Begeisterung über die Wende in Grenzen hält.

»Menschenskind«, sagt eine andere alte Frau über die neue Staatsform, »das ist ja nun das zweite Mal, daß unserer Generation das passiert.« Da ärgere es einen schon, »wenn die Wessis kommen und sagen, ihr müßt erst einmal arbeiten lernen. Schließlich haben wir ja nicht jahrelang auf der faulen Haut gelegen.« Thomas Kuppinger

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen