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KOMMENTAREDas Ende der „Nichteinmischung“?

■ Vor einer Weltpolizei muß erst die langwierige Reform der UNO kommen

Noch haben die UNO-Experten ihre Überwachungsarbeit im Irak nicht aufgenommen, und noch sind die Blauhelme in die neutralisierten Zonen nicht eingerückt — aber schon werden wir mit Traktaten überhäuft, die das Zeitalter der „Nichtintervention“ in die Belange anderer Staaten zu Grabe tragen wollen und eine neue Ära weltweiter Humanität heraufziehen sehen. Künftig sollen durch den bewaffneten Arm der Weltorganisation UNO nicht nur Aggressionen gegen fremde Staaten in den Arm gefallen, sondern auch verbrecherische Aktionen von Tyrannen gegen ihr eigenes Volk geahndet werden. Speziell in der Bundesrepublik werden solche Hoffnungen mit der Aufforderung verquickt, mit dem deutschen Beitrag zur Weltpolizei nicht länger zu zögern.

Das Prinzip der Nichteinmischung ist mit dem des Nationalstaats logisch und geschichtlich verknüpft. In der Epoche der Entkolonialisierung, der Bildung neuer Nationalstaaten war es eine Waffe der antiimperialistischen Selbstbehauptung. Tschou En-Lais berühmte Sentenz „Staaten wollen Unabhängigkeit, Nationen wollen Befreiung, die Völker wollen die Revolution“ verfolgte die Absicht, das innere Band zwischen dem Streben nach unbedingter Souveränität und einer antiimperialistischen Orientierung in der Dritten Welt aufzuzeigen. In den Erklärungen von Bandung (erste Konferenz der Blockfreien) und anderen Grundsatzdokumenten der Zeit figurierte die Nichteinmischung stets unter den fünf leitenden Gesichtspunkten der „friedlichen Koexistenz“. Diese Politik richtete sich gerade gegen den Universalitätsanspruch der UNO, die als willfähriges Instrument des US-amerikanischen Hegemonismus begriffen wurde.

Bekanntlich haben die Hoffnungen getrogen, die sich auf die Entfaltung der politischen und ökonomischen Potenzen der neuen Nationalstaaten richteten. Der Nationalismus hat seine antiimperialistische Unschuld verloren, aus ehemals kolonisierten Ländern wurden im Handumdrehen Mächte, die selbst nach regionaler Hegemonie strebten. Zehn Jahre vor der Besetzung Kuwaits wurde der Welt dies durch die doppelte Katastrophe des vietnamesischen Einmarschs in Kampuchea und des nachfolgenden „Erziehungsfeldzugs“ der Chinesen gegen die Vietnamesen vor Augen geführt.

In Europa war die „Nichteinmischung“ stets eine Grundkomponente der sowjetischen Westpolitik gewesen. War doch die Herrschaftszone der Sowjetunion in Osteuropa mit der formalen Souveränität der gewaltunterworfenen Staaten so lange vereinbar, wie die heimischen Machteliten die übergeordneten Interessen der „sozialistischen Weltgemeinschaft“ exekutierten. Deshalb drängte die Sowjetunion auch — trotz der massivsten denkbaren Einmischung bei der Niederschlagung des Prager Frühlings — auf die Aufnahme und restriktive Interpretation der „Nichteinmischungs-Klausel“ ins Helsinki-Abkommen. Diese nur scheinhafte Anerkennung des Nichteinmischungs-Prinzips wendete sich in den demokratischen Revolutionen des Jahres 1989 gegen seine ursprünglichen Verfechter. Die „Sinatra“-Doktrin „Do it your way“ ebnete nicht nur der Demokratie den Weg, sondern auch der nationalen Unabhängigkeit.

Mit dem Ende des Systemgegensatzes Ost-West scheint das Gebot der „Nichtintervention“ überholt. Die UNO, deren Satzung schon immer die Möglichkeit vorsah, auf Grund eines Beschlusses des Sicherheitsrates Zwangsmittel gegen Staaten auch ohne deren Einwilligung einzusetzen, ist jetzt — auf Grund von Übereinkünften der „Großen“ — in der Lage, auch praktisch so zu verfahren. Aber genau hier liegt auch die ungeklärte Problematik der Intervention: Sie ist dem Konsens der Mächte anheimgegeben, die in der Konstruktion der UNO als privilegierte ständige Mitglieder des Sicherheitsrats mit Vetorecht etabliert wurden.

Die Politiker, die jetzt eine „humanitäre“ UNO- Streitmacht fordern, müssen sich darüber im klaren sein, daß eine so weit gespannte Befugnis auch eine entsprechende Verpflichtung nach sich zieht. Für die Intervention kann nur auf der Basis einer universell anerkannten Legitimation gestritten werden — und die besteht in dem Gebot, die Ursachen von Armut, Tyrannei und Unterentwicklung in weiten Teilen der Erde zu beseitigen. Ohne einen geregelten Ressourcentransfer Nord-Süd über die Weltpolizei zu reden ist bestenfalls Ausdruck eines formal-institutionellen Denkens, einer Juristen-Ideologie, die die Gelegenheit gekommen sieht, die schrecklichen Wechselfälle der Geschichte der gewohnten Streitordnung zu unterwerfen. Kant, auf den sich die Juristen-Politiker immer gern berufen, war da realistischer. In seinem Pamphlet Zum ewigen Frieden erkennt er das Nichteinmischungs-Prinzip nolens volens für eine lange Übergangsperiode als notwendig an.

Die Idee eines allgemein legitimierten, auch mit Zwangsmitteln bewehrten Instruments der Streitschlichtung durch die UNO ist ein weitgreifendes, der Humanität verpflichtetes Projekt. Seine Verwirklichung ist aber abhängig von einer Reform der UNO-Institutionen, die die Vorrechte der privilegierten Mitglieder erst einschränkt, um sie dann ganz zu beseitigen. Erforderlich ist auch die Anpassung der Organisationsstrukturen an die vordringlichen ökonomisch-ökologischen Aufgaben und die Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte, der „Non-Governmental-Organisations“ in den Beratungs- und Entscheidungsprozeß. Wer jetzt bei uns nach der Grundgesetzänderung ruft, die deutschen Soldaten den Dienst bei der UNO erlauben soll, verkennt die Reihenfolge der Aufgaben. Eine solche Verfassungsänderung könnte nur am Ende eines Diskussions- und Entscheidungsprozesses stehen, der die Aufgaben Deutschlands und Europas gegenüber der Weltgesellschaft neu bestimmt und verfassungsrechtlich absichert. Bis dahin steht ein bescheideneres Programm auf der Tagesordnung: Stärkung der Position des UNO-Generalsekretärs angesichts zwischenstaatlicher Konflikte und eine obligatorische Finanzierung von Friedensmissionen der UNO durch die Mitgliedstaaten. Christian Semler

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