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Leben in einer lautlosen Welt

■ Was Gehörlose alles nicht hören und wie sie dennoch sprechen lernen

In der Gehörlosenschule an der Marcusallee in Bremen-Horn sitzt die achtjährige Melanie zusammen mit ihrer Lehrerin Terezija Zaric am „Sprachfarbbild- Transformator“. An diesem Computer lernt Melanie sprechen. Lehrerin Zaric spricht gerade das Wort „Sonne“ in ihr Mikrofon und auf dem Bildschirm erscheint daraufhin eine farbige Kurve, die im linken Teil violett ist und nach rechts in andere Farben übergeht. Das Violett steht für das weiche, stimmhafte „S“ am Beginn des Wortes. Jeden Laut zeigt der Bildschirm mit einer eigenen Farbe an.

Die farbige Kurve bleibt nun im oberen Teil des Bildschirms stehen und die gehörlose Melanie bemüht sich, das Wort „Sonne“ so nachzusprechen, daß ihre Kurve in der unteren Bildschirmhälfte dem Vorbild der Lehrerin möglichst ähnlich sieht. Das gelingt nicht sofort, denn Melanie muß das Wort „Sonne“ ja aussprechen, ohne zu hören wie es klingt. Durch Sehen muß sie sprechen lernen.

„Manchmal kommt dabei Frust auf, denn die Maschine ist unerbittlich“, sagt Manfred Büscher, der Leiter der Gehörlosenschule. Eine andere wichtige Methode zum Erlernen der gesprochenen Sprache ist das „Handauflegen“. Die Schülerin legt dabei ihre Finger zum Beispiel auf den Kehlkopf der Lehrerin, um durch die Schwingungen zu fühlen, wo die Laute gebildet werden.

Im Raum neben dem Sprachtransformator steht noch ein weiterer High-Tech-Apparat: der „Sprechspiegel“, auch ein Sprachlern-Computer. Eine Gruppe von SchülerInnen trainiert dort gemeinsam. Einer von ihnen probiert das „I“. Wenn er den richtigen Ton trifft, krabbelt auf dem Bildschirm der Affe eine Palme hoch und wirft eine Kokusnuß herunter.

Bis letzten Freitag testete die Schule die Computer im Rahmen des Modellversuchs „Cosges“: „Computereinsatz in Sonderschulen für Hörgeschädigte und Sprachbehinderte“. Manfred Büscher: „Die Geräte sind eine sinnvolle Ergänzung beim Sprechenlernen, aber mehr auch nicht.“

Ein paar Jahrgangsstufen weiter, in einer Klasse des Realschulbereichs, schmunzelt die 14jährige Katja, weil sie gerade eine neue Gebärde erfunden hat, eine, die ihr aus der Deutschen Gebärdensprache bisher unbekannt war. Katja winkelt den rechten Arm an und tut so, als wenn sie eine Lanze anlegt. Danny hat noch eine Alternative auf Lager, um das Wort „Ritter“ mit einer Geste auszudrücken. Er hält sich einen imaginären Schutzschild vor die Brust.

Ihr Lehrer, der nach einem Autounfall schwerhörige Bernd Rehling, macht seiner vierköpfigen Klasse im Geschichtsunterricht gerade Karl den Großen und seine Kriege schmackhaft. Das ist oft nicht leicht, denn viele Fakten, Begriffe und Zusammenhänge, mit denen Hörende im gleichen Alter selbstverständlich umgehen, kommen im Wissensschatz von Gehörlosen nicht vor. Sie sind von der alltäglichen Wissensvermittlung durch Sprache ausgeschlossen und können an keiner Unterhaltung teilnehmen. Gehörlose müssen sich eine ihnen bisher unbekannte Wirklichkeit erschließen, indem sie neue Gebärden finden und damit Begriffe bilden.

„Gehörlosen ist vieles nicht bekannt. Ihnen fehlt viel von unserem normalen –Umweltwissen'“, sagt Bernd Rehling. Dazu gehören oft auch abstrakte Begriffe wie die allgemeine Bezeichnung „Kohl“ für Rosenkohl, Blumenkohl, Weißkohl. Denn die für Gehörlose unverständliche Sprache enthält Denkstrukturen und Ordnungskriterien, mit der Hörende ihre Wahrnehmungen automatisch in den Griff nehmen.

Was es bedeutet, nicht hören zu können, ist für hörende Menschen nur schwer zu verstehen. Gehörlose hören zum Beispiel keine Empfindungen, die durch Stimm-Melodie und Betonung in der Sprache mittransportiert werden. Bernd Rehling: „Das Ohr ist das Tor zu den Empfindungen.“ Gehörlose leben in einer geräuschlosen und oft emotionslosen Welt. Und einer Welt, die voll ist von heftigen Überraschungen und Schocks. Denn kein schlurfender Schritt oder Türengeklapper kündigt einen unerwarteten Besucher an, der sich von hinten nähert.

Seit 1827 existiert in Bremen eine Schule für Gehörlose, seit 1959 ist sie als staatliche Sonderschule organisiert. Heute unterrichten in der Marcusallee 50 LehrerInnen 153 SchülerInnen in 19 Klassen. Der Ausbildungsgang geht bis zum Haupt-und Realschulabschluß und dauert für die Gehörlosen in der Regel zwei Jahre länger als normal.

Die 14jährige Katja würde später gerne Sportlehrerin werden. Marc steht der Sinn nach einer Ausbildung als Koch oder Fotograf. Und für Danny ist es dank des Computer-Modellversuchs nicht unrealistisch, daß er Computerfachmann werden kann.

Manfred Büscher meint, daß diese Berufsziele für Gehörlose durchaus im Bereich des Möglichen liegen. Wenn sie nur entsprechend gefördert werden, was aufgrund des Primats der Sprechtherapie an vielen Gehörlosenschulen nicht immer gewährleistet sei. Kommunikative Berufe wie Pfarrer oder Journalist scheiden allerdings aus, so Büscher.

Und was sich die SchülerInnen und LehrerInnen der Marcusallee zur Verbesserung der Situation Gehörloser wünschen? Birthe aus Katjas Klasse sagt in Gebärdensprache, daß mehr Gehörlose im Beruf in leitende Positionen aufsteigen sollen. Marc wünscht sich, daß mehr gehörlose LehrerInnen an seiner Schule unterrichten. Denn die beherrschen die Gebärdensprache und versuchen weniger, sich über die gesprochene Sprache zu verständigen.

Und Bernd Rehling schließlich stellt die grundsätzliche Forderung auf, daß die Gehörlosen als sprachliche Minderheit mit einer eigenen (Gebärden-) Sprache anerkannt werden sollen, damit sie zum Beispiel ihre Dometscher nicht selbst finanzieren müssen. Hannes Koch

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