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Oranienstraße schrill und und bunt - nicht nur ab 1. Mai

■ Die Kreuzberger Oranienstraße im Wandel der Geschichte: Vom aufstrebenden Handelszentrum zum schrill-bunten Szene-Treff/Herrenausstatter kann sich auch nach 60 Geschäftsjahren...

Kreuzberg. Der große Baedeker erwähnt Kreuzbergs bekannteste Straße nur in wenigen Sätzen. Im Register taucht ihr Name nicht einmal auf. Den Bewohnern ist das Schnuppe. Sie sind so sehr mit sich und ihrem Kiez beschäftigt, daß ein Touristenbus noch immer mißtrauische Blicke erntet.

Um die Jahrhundertwende war die Oranienstraße eine der wichtigsten Einkaufsstraßen im Südosten Berlins. Banken, Warenhäuser, Cafés und Restaurants konzentrierten sich rund um Heinrich-, Oranien- und Moritzplatz. Der zweite Weltkrieg verwandelte die Straße in einen Schutthaufen. Was den alliierten Bomberpiloten entging, fiel der Kahlschlagsanierung der 60er und 70er Jahre zum Opfer. Erst die Hausbesetzerbewegung zu Beginn der 80er Jahre konnte die brutale Baupolitik stoppen. Im Zuge der nun einsetzenden »behutsamen Stadterneuerung« erlebte die Oranienstraße eine Renaissance. Leerstehende Läden fanden neue Betreiber, heruntergekommene Wohnhäuser wurden unter Mitsprache der Bewohner saniert. Die Oranienstraße wurde zum Zentrum der Alternativkultur. Heute bestimmen türkische Bäcker, Gemüsehändler und schrille Szeneläden das Bild. Die ritualisierte 1.-Mai- Randale gehört dazu.

Alfons Steiof führt seit 1957 zusammen mit seinem jüngeren Bruder Bernhard den Tabakladen in der Oranienstraße 10. In dem Traditionsbetrieb gehen schon seit den 20er Jahren nur Rauchwaren über den Ladentisch. Damals war das Geschäft in armenischem Besitz, im Hinterhof stand eine Zigarrenfabrik. Auf die Bezeichnung »Tabakfachgeschäft« legen die Gebrüder Steiof noch heute größten Wert. Fachfremd ist nur die Lottoannahmestelle. »Ohne das Lotto könnten wir gar nicht überleben«, gesteht Steiof und beklagt den Rückgang der Zigarrenraucher. Denn mit der Kahlschlagsanierung seien ja die meisten Kunden weggezogen. Den Harry Ristock, der als damaliger SPD-Bausenator für die Sanierungspolitik verantwortlich war, könne er heute noch nicht riechen. Mit den Hausbesetzern hätten sie nie Probleme gehabt. »Zuerst konnte ich die verstehen. Leider haben sie es nicht geschafft, sich von den Chaoten zu distanzieren.« Daß bei den 87er Mai-Krawallen auch ihr Laden zerstört wurde, war ein harter Schlag. Seitdem räumen sie jedesmal vor dem 1.Mai die Auslagen. Die Resignation nach 34 anstrengenden Geschäftsjahren, Herzinfarkt inklusive, ist unüberhörbar: »Wenn ich sechs Richtige im Lotto hätte, würde ich den Laden auf der Stelle verschenken«, sagt Herr Steiof leise.

Zur zigarettenrauchenden und lottospielenden Kundschaft gehören viele Türken. Allein in dem kurzen Abschnitt zwischen Wiener Straße und Heinrichplatz gibt es 12 türkische Geschäfte. Auch Vahap Kalyon betreibt hier seit sechs Jahren einen Lebensmittelladen. Der 36jährige lebt schon 20 Jahre in Berlin. Anders als die vielen türkischen Geschäfte verkauft er nur »islamische Lebensmittel«. Den abgezogenen Hammeln hinter der Fleischtheke wurde die Kehle durchgeschnitten. Herr Kalyon liebt die Oranienstraße. Besonders die Besetzer findet er gut. »Die sind so wie unsere Leute, nicht so hart, wie die Deutschen normalerweise«. Seit dem 1. Mai 87 hat er für seinen Laden eine zusätzliche Versicherung abgeschlossen.

Rund um den Heinrichplatz wirken die einstigen Besetzerhäuser — »kriminelle Fluchtburgen« nannte sie Heinrich Lummer 1980 — nach ihrer behutsamen Sanierung wie Modelle aus einem Schöner-Wohnen- Prospekt. Solarenergie und »Vertikalsumpf« sorgen fürs ökologische Gleichgewicht. »Rote Harfe«, »Elefant« und »Café Jenseits« sind immer noch Treffpunkt der autonomen Szene. In den Sommermonaten wird der Gehsteig zum verlängerten Tresen, an dem altgediente Straßenkämpfer über den Sinn ihrer Pflastersteinpolitik diskutieren. Gegenüber sorgt »Kraut und Rüben« für die bio- dynamische Versorgung. Früher richteten sich die Öffnungszeiten der Körnerbrot- und Biogemüsehändler nach dem Demo-Kalender, die Protest- und Spendenaufrufe hängen noch immer im Fenster. Mancher radikale Kunde von damals kauft dort heute Demeter-Milch fürs Kind.

Im Eckhaus Oranienstraße 191 residiert seit über 60 Jahren der »Herrenausstatter Kusto«. Im gediegenen Innenraum gibt's vom Colucci- Jackett über italienische Schuhe bis zum Herrenslip alles, was zum Gentleman-Outfit gehört. Daß sein Warenangebot nicht mit den Modegewohnheiten auf der Oranienstraße übereinstimmt, stört Inhaber Hans- Jürgen Manthey nicht. Seine Stammkundschaft reiche »vom Straßenfeger bis zum Direktor«, erklärt der 50jährige. Die Firmengeschichte ist eng mit dem Auf- und Niedergang der Oranienstraße verknüpft.

Jetzt werden auch Luxusrenner angeboten

In den 50ern und 60ern bediente der Herrenausstatter noch Kunden aus allen Stadtteilen. »Damals, als noch die Straßenbahn fuhr, hatten wir sogar zwei Kassen im Laden, eine für Ost- und eine für Westwährung.« Mit dem Mauerbau blieb die Ostkundschaft aus. Und mit der zunehmenden Verelendung des Kiezes verlor »Kusto« auch viele seiner Kreuzberger Kunden, die in andere Bezirke abwanderten. Trotzdem entschloß sich Manthey 1980 zu einer Geschäftserweiterung. Beim Einweihungsfest wurde er von den neuen Besetzer-Nachbarn noch mißtrauisch beäugt als »Schicki-Spinner«. Mit seinem kumpelhaften Charme konnte er die Szene aber schnell für sich gewinnen. Während der Krawalle sei nie absichtlich eine Scheibe bei ihm eingeworfen worden. Von der Maueröffnung verspricht sich Vom aufstrebenden Handelszentrum zum schrill-bunten Szene-Treff/ Am früheren Knotenpunkt Moritzplatz endet der SO-Boulevard

der Herrenausstatter nicht nur neue Kundschaft, sondern auch eine Belebung des Bezirks. Von den Veränderungen im Kiez zeugt dann auch das Schaufenster des »Zentralrads«. Die Zweiradhändler bieten in ihrer Auslage einen Luxusrenner für stolze 4.895 Mark an. Seitdem Montain- Bikes und Radlerhosen auch in der Szene in Mode gekommen sind, regt sich darüber niemand mehr auf.

Noch vor gar nicht so langer Zeit bekam ein anderer Geschäftsinhaber auf der Oranienstraße wegen eines ähnlichen »Vergehens« die vehemente Macht der »Kiezpolizei« zu spüren. Als das Restaurant »Maxwell« mit schickem Interieur, französischer Küche und ordentlichen Preisen der Kebab-Kultur entgegentrat, begrüßte die autonome Szene den »Schicki-micki«-Eindringling mit zwei Eimern voll Scheiße. Wegen der fortgesetzten Drohungen gab der Inhaber den Laden auf. Heute hat sich in den gleichen Räumen das etwas weniger schicke Kneipenrestaurant »Anton« etabliert.

Auch Christine Heider stand anfangs auf der Abschußliste der luxusfeindlichen »Kiezmafia«. Seit fünf Jahren handelt die 50jährige Geschäftsinhaberin in der Oranienstraße 23 mit Seidenstoffen, Stofffarben und zarten Seidendessous. »Mittlerweile gehen die Dessous ganz gut, früher gar nicht«, erzählt sie über die zunehmende Nachfrage nach seidiger Damenunterwäsche.

In den letzten Jahren erlebte die Oranienstraße einen echten Boom an Neueröffnungen. Für schrill-szeniges Outfit sind die Klamottenläden »Stoffwechsel«, »Berliner Chic« »Verrutschi« oder »Mr. und Mrs. Minit« zuständig. Die Ladenräume neben dem »SO 36«, dem kultischen Zentrum der Punk-Musik-Ära und legendären Auftrittsort der »Einstürzenden Neubauten«, hat ein Musikgeschäft bezogen. Das SO wurde nach längerer Renovierungsphase als ordentlicher Veranstaltungsort wiedereröffnet.

Zum neuen Straßenbild gehören auch einige Galerien. Die schönste versteckt sich weiter hinten in der Oranienstraße 46. Das handtuchschmale »Kunsthaus« ist eines der ältesten noch erhaltenen Gebäude auf der Oranienstraße. 1964 eröffnete der Kunstliebhaber Kurt Gratz in dem dreistöckigen Gebäude eine Kunsthandlung mit Galerie. Die angebotene Auftragsmalerei — kitschige Landschaften in Öl, Stilleben und goldgerahmte Porträts — fand damals regen Absatz. Als der Kunsthändler 1982 starb, stand das Haus sechs Jahre leer. Die neuen Besitzer Betina Schob und Arno Lensky erwarben es von der Witwe unter der Bedingung, den alten Bilderbestand zu übernehmen und wieder eine Galerie einzurichten.

Dem Kunsthistorikerpaar kam das gerade recht. Behutsam haben sie das Gebäude wiederbelebt. Nach fast vier Jahren Galeriebetrieb steht ihr Konzept: »Konstruktiv-konkrete Kunst nach 1960 — solide Kunst und Graphik zu erschwinglichen Preisen«. Wegen Renovierungsarbeiten logiert die Galerie jetzt vorübergehend im »Kunstraum« in der Luckauer Straße. Während am Tage zwischen Görlitzer Bahnhof und Moritzplatz geschäftige Einkaufsatmosphäre herrscht, verwandelt sich die Oranienstraße nachts in ein Vergnügungsviertel. Besonders am Wochenende strömt gestyltes und weniger gestyltes Publikum in die Bars, Cafes und Tanzschuppen rund um die O-Straße. Längjährige Szene- Renner sind die schwule »Oranienbar« und das »Cazzo«. Neu dazugekommen sind »Dorti« und die Cocktailbar im »Bierhimmel«. Kurz vor dem Oranienplatz hat sich die Disko- Szene eingenistet. Im »SOX« mit dilletantisch aufgemotztem Flugzeuginterieur tanzt das Mainstreampublikum mit Hang zu Soul und Pop. Gleich daneben im 1. Stock des massigen Eckhauses war das »Trash« kurze Zeit der Geheimtip für verwöhnte Independentliebhaber. Heute hängen in den dunklen Fabrikräumen überwiegend »Hard-and- Heavy«-Fans ab.

Abgekämpften Nachtschwärmern begegnet man oft noch am frühen Morgen auf einer der Parkbänke rund um den Oranienplatz. Bei Tage nehmen Hundebesitzer, Kinder und türkische Familien den Platz in Besitz. Anstelle des langgestreckten Grünstreifens zwischen Wassertorplatz und Engelbecken erstreckte sich hier früher einmal der Luisenstädtische Kanal. 1848 im Zuge einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme erbaut, erwies sich der Kanal als Schiffahrtsweg wenig effektiv, wurde deshalb 1926 wieder zugeschüttet und in eine Grünanlage verwandelt. Zwei Jahre später baute Max Taut am Oranienplatz ein sechsgeschossiges Gewerbehaus im Stil der neuen Sachlichkeit. Heute findet man unter der Adresse Oranienplatz 4 Designer, Architekten und eine Aikidoschule. Unter den Mietern: Wim Wenders mit seiner Filmproduktion »Velvet-Film«.

Die Oranienstraße endet abrupt am Moritzplatz. Zwar trägt der folgende gut ein Kilomenter lange Straßenabschnitt bis zur Lindenstraße weiter ihren Namen. Doch atmosphärisch und städtebaulich gesehen kommt sie hier an ihren toten Punkt. Um den Platz drängten sich in den 20er Jahren Bankhäuser, Cafes und Ballsäle. Auf dem brachliegenden Gelände des Autohändlers stand das 21 Meter hohe und 182 Meter breite Wertheim-Warenhaus.

Auf dem Moritzplatz kreuzten sich 18 Straßenbahnlinien. Heute zählt die verbliebene U-Bahnhaltestelle zu den einsamsten in Berlin. Vorbei an der Tristesse des 50er-Jahre-Aufbauprogramms zieht sich die Oranienstraße noch bis zur ehemaligen »Reichsschuldenverwaltung« und der »Kgl. Preuß. Staatsdruckerei«. Der eindrucksvolle Klinkerbau der Schuldenverwalter dient heute als Senatsspeicher, in der Druckerei werden unter strengster Bewachung bundesdeutsche Banknoten, Pässe und Sparbücher gedruckt. An Springers 79 Meter hohem Messingturm ist dann endgültig Schluß mit der Oranienstraße. Ute Thon

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