: Das Lazarett der langen Weile
Europameisterschafts-Qualifikation, Gruppe 5: Deutschland — Belgien 1:0 54.000 erwartungsfrohe Zuschauer wurden von einer lahmen Partie bitterlich enttäuscht ■ Aus Hannover Matti Lieske
Die Pressekonferenz nach dem Spiel hörte sich fast an wie der Lokaltermin in der Notaufnahme eines Krankenhauses. Vier Spieler, als da wären Häßler, Klinsmann, Völler und Brehme, hätten nur nach Verabreichung einer Spritze spielen können, erläuterte Bundestrainer Berti Vogts geknickt. Bei Thomas Doll hatte es für eine Spritze nicht ganz gereicht, drum wurde er von Vogts nicht in die Invalidenliste aufgenommen. Das paßte dem Hamburger aber gar nicht. Er sei doch auch verletzt, verkündete er fast trotzig: jede Menge Prellungen und Probleme mit den Muskeln.
Im Spiel war Doll davon nicht viel anzumerken. Er hastete wie ein Besengter auf dem Platz herum, und hätte die Partie zwei Minuten länger gedauert, wäre er vermutlich am Elfmeterpunkt kollabiert. „Das waren wieder weite Wege heute“, stellte der emsige HSV-Stürmer fest, mit dessen Kampfgeist Vogts „sehr zufrieden“ war. Außer Doll rannte noch Rudi Völler, und damit hatte es sich auch schon.
Jürgen Klinsmann meinte selbstkritisch, daß ihm in einigen Situationen aufgrund seiner Sprunggelenkverletzung Sicherheit und Koordination gefehlt hätten, der mit gebrochenem kleinen Zeh in der ersten Halbzeit hervorragend spielende Brehme tauchte im zweiten Abschnitt unter und selbst Lothar Matthäus gab zu, „daß auch bei mir einige Bälle mißlangen“.
Heraus kam ein Spiel, das den anfangs völlig euphorisierten Zuschauern gründlich die Laune verdarb. Dabei hatte es durchaus spektakulär begonnen. In der 3.Minute gelang Matthäus gleich seine beste Aktion, als er sich auf dem rechten Flügel geschickt durchwurschtelte und raffiniert an dem konsternierten Torwart Preud'homme vorbei zur Mitte flankte. Zwar landete der Ball auf einem belgischen Abwehrschädel, aber Preud'homme war noch so verwirrt, daß er den anschließenden Schuß, wiederum von Matthäus, über die Linie prallen ließ, wo Völler dem Ball vorsichtshalber noch einen kleinen Stups versetzte. „Der Ball war schon drin“, gab „Ruudii“ später zu, „aber als Stürmer mußt Du nachsetzen.“
Danach entschlief das deutsche Spiel. „Bewegen, bewegen“, brüllte Vogts immer wieder, aber außer Völler und Doll mochte keiner auf ihn hören. Das „Spiel ohne Ball“ habe nicht geklappt, analysierte scharfsichtig Torwart Bodo Illgner, der gut reden hatte: Bei ihm klappte das Spiel ohne Ball hervorragend, er durfte die meiste Zeit faul herumstehen. Die Belgier standen ihrem Gegner nämlich in Sachen Schläfrigkeit und Schludrigkeit kein bißchen nach. Einzig Enzo Scifo — Mannschaftskamerad von Brehme, Klinsmann und Matthäus bei Inter Mailand, nur gerade ins französische Auxerre ausgeliehen — sorgte gelegentlich für Gefahr, was hauptsächlich daran lag, daß er der einzige im belgischen Team war, der den Ball gescheit stoppen konnte.
Ein glänzender Steilpaß Scifos auf Crasson, dessen Flanke Wilmots aus kurzer Entfernung Illgner auf den Bauch schoß, ein Crasson-Kopfball nach Scifo-Flanke und ein wuchtiger Scifo-Freistoß, der knapp am linken Pfosten vorbeizischte, brachten die einzigen Schrecksekunden für den Kölner Keeper. Da aber der diesmal äußerst sangesfrohe Matthias Sammer, die Kreise des 25jährigen Spielmachers — anfangs mit einem gehörigen Schuß Brutalität — mächtig einengte, reichten Scifos Bemühungen nicht, um den Belgiern, die bereits drei Punkte gegen Wales verloren haben, ihre minimalen Hoffnungen auf die EM-Qualifikation zu erhalten. Insgesamt war das ohne die zürückgetretenen Clijsters, Ceulemans und Gerets angereiste Team so schwach, daß ein belgischer Journalist, offenbar von der Lazarettatmosphäre angesteckt, vorsichtig beim 68jährigen Coach Guy Thys anfragte, ob denn Frankie van der Elst beispielsweise verletzt ins Spiel gegangen sei. Die Antwort war knapp, eindeutig und vernichtend: „Non!“
Auch die Deutschen konnten Preud'homme nicht mehr ängstigen und in der zweiten Halbzeit begann das deprimierte Publikum sporadisch zu pfeifen, was der weltgewandte Lothar Matthäus als äußerst unsolidarisch empfand: „In Italien gibt es das nicht.“ Hauptsache gewonnen, war anschließend der allgemeine Tenor, ein „absoluter Pflichtsieg“, befand Bodo Illgner. Die Qualifikation zur EM sei dadurch keineswegs leichter geworden, denn schließlich müsse noch zweimal gegen Wales gespielt werden, und „die werden uns erheblich mehr fordern als Belgien“ (Illgner). Aber vielleicht kann sich Berti Vogts ja bis dahin dazu durchringen, einfach mal elf gesunde Spieler auf den Platz zu schicken.
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