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INTERVIEW„Unsere Blutfrömmigkeit auf den Straßen“

■ Warum finden wir uns mit den Toten im Verkehr so bereitwillig ab?/ Welche archaischen Triebe überwältigen uns hinter dem Steuer?/ Zu den Anforderungen an die Autofahrer der Berliner Theologieprofessor Klaus-Peter Jörns

taz: Rund 8.000 Tote und an die 30.000 Krüppel. Das ist nicht etwa die Bilanz eines ethnischen Konflikts oder einer kriegerischen Auseinandersetzung. Das sind schlicht die Opfer, die die Verkehrsschlacht auf den Straßen alljährlich fordert — allein in den alten Bundesländern. Seit 1951 haben wir damit eine Stadt von der Größe Frankfurts ausgerottet. Das blutige Desaster auf unseren Straßen wird gewissenhaft registriert, in den jährlichen Statistiken fortgeschrieben — und als unabdingbar hingenommen. Warum?

Klaus-Peter Jörns: Im Verkehrsgeschehen wirkt etwas mit, das nicht auf der rationalen Ebene liegt und auch nichts mit der offiziellen Zweckbestimmung des Autos zu tun hat.

Sondern womit?

Mit einer Gesinnung, die es schon seit Urzeiten im Menschen gibt und die ich als Blutfrömmigkeit bezeichne. Das ist eine Frömmigkeit, die bereit ist, für bestimmte Ziele des Menschen Blut zu opfern und die davon ausgeht, daß diese Blutopfer nötig sind. Diese Blutfrömmigkeit spielt vor allem in Kriegen eine Rolle — das letzte Beispiel ist der Golfkrieg. Und sie wird in anderen Zusammenhängen praktiziert, wo ein steinzeitliches Verhalten des Menschen zum Vorschein kommt.

Aber mit archaischen Blutopfern sollte eine Schuld abgewaschen, gesühnt, sollten die Götter freundlich gestimmt oder besänftigt werden.

Es geht auch um Sühneopferbereitschaft; aber zuerst geht es darum, daß wir Menschenopfer mit einkalkulieren, um bestimmte Ziele zu erreichen. Denn jeder der Auto fährt weiß, daß er das Risiko eingeht, zu töten und getötet zu werden. Von außen gesehen ist das Auto nur ein Verkehrsmittel. Aber in dem Moment, wo wir drin sitzen, reaktiviert es archaische Verhaltensweisen.

Und was zeigt sich dann auf den Straßen?

Jagdverhalten zum Beispiel. Wie verhalten sich Menschen an Ampeln beim Umschalten von Gelb auf Grün? Sie wissen, daß sie nichts gewinnen und trotzdem inszenieren sie eine Jagdszene, wo es um Zentimeterchen geht. Oder beim Fahren in der Schlange: Da wird versucht, einen minimalen Platzvorteil zu erzielen, auch wenn man dadurch das Risiko eingeht, einen Unfall zu provozieren. So etwas läßt sich nur aus dem Jagdverhalten uralter Zeiten erklären, wo es wirklich eine Rolle spielte, wer das Beutetier zuerst einholte.

Außerdem wird im Auto eine gesteigerte Geborgenheitsillusion aktiviert, die durch Geschwindigkeit noch potenziert wird. Deshalb eignet sich ein Auto sowohl dazu, Fluchttendenzen abzureagieren, als auch Geborgenheitssehnsüchten zu folgen. Und weder Jagdverhalten noch Geborgenheitssehnsucht tragen dazu bei, die Verkehrssicherheit zu fördern. Vielmehr lenken sie uns ab und führen dazu, daß wir nicht in der Lage sind, uns ständig selbst zu kontrollieren.

Das erklärt noch nicht, warum wir uns so bereitwillig mit den Folgen abfinden, mit dem täglichen Blutzoll, den wir entrichten.

Der Wert, den wir mit dem Autofahren verbinden, das, was die Mehrheit der Autofahrenden an Gefühlen, an Befriedigung archaischer Triebe erlebt, wird so hoch geschätzt, daß dafür sogar ein Blutopfer bereitwilligst hergegeben wird. Wenn man selbst betroffen ist, ist es schlimm. Aber insgesamt wird dieses Opfer akzeptiert, selbst von Technikkontrolleuren. Kein Technischer Überwachungsverein würde eine Maschine genehmigen, wenn im Umgang mit ihr soviele Tote und Schwerverletzte zu beklagen wären.

Spüren wir hinter dem Steuer die Bereitschaft zum Töten?

Hinter dem Steuer praktizieren wir eine unmäßige Risikobereitschaft im Blick auf das Töten und das Getötetwerden. Auch dafür sind psychische Vorgänge verantwortlich: Da das Töten fremden Lebens sanktioniert ist, wird das eigene gewissermaßen als Sühneopfer angeboten.

Wenn hier archaische Triebe am Werke sind, kann man sie rational bewältigen?

Da diese Problematik nicht im rationalen Bereich angesiedelt ist, kann man mit Ratio nicht sehr viel machen. Und da man nicht auf das rationale Steuerungssystem des Menschen abzielen kann, muß man von außen fremdgesteuerte Grenzen setzten. Ich plädiere entschieden dafür: Erstens, den freien Zugang zu diesem Fahrzeug einzuschränken, so daß nicht mehr jeder täglich fahren kann. Zweitens müßten in die Fahrzeuge Abstands- und Geschwindigkeitsregler eingebaut werden, die nur noch die Höchstgeschwindigkeiten der jeweiligen Zone zulassen.

Das hieße, radikale Beschränkung der Freiheit auf den Straßen. Aber gerade da ist sie uns doch so wichtig.

Keiner von uns darf die Freiheit beanspruchen, schneller zu fahren, als erlaubt ist. Wer es dennoch tut, benutzt das Autofahren als Möglichkeit — und zwar als eine listenreich und ästhetisch verpackte Möglichkeit — das von Freud beschriebene „Unbehagen in und an der Kultur“ auszudrücken, und zwar in einer gesellschaftlich akzeptierten Weise.

Die sublimierte und unterdrückte Triebhaftigkeit sucht sich im Auto ein Ventil?

Anders kann ich es mir nicht erklären.

Warum wird politisch nicht rigoroser gehandelt?

Es fehlt der politische Wille. Das hat mit wirtschaftlichen Verquickungen zu tun. Aber auch damit, daß Politiker selber Autofahrer sind und auch noch zu den Bevorrechtigten gehören, die sich selten an Geschwindigkeitsbeschränkungen halten. Sie empfinden es geradezu als Standesprivileg, auf den Autobahnen weiter im Polizeischutz zu rasen.

Die Macht der Autolobby ist nicht zu verachten.

Die Automobilindustrie ist mit ihrer bisherigen Politik schlecht beraten. Denn dieses Weiterproduzieren und -verstopfen wird in den totalen Stau führen. Und der totale Stau wird erhebliche Einschränkungen des Verkehrs nach sich ziehen. Außerdem bedenken die Automobilhersteller nicht, daß der Großteil derer, die die Unfälle produzieren, junge Leute zwischen 18 und 25 sind. Der Bevölkerungsanteil dieser Gruppe macht 7 Prozent aus, ihr Anteil an den tödlichen Unfällen 47 Prozent. Wenn man bedenkt, wieviele auf der Straße sterben und dadurch nur ein oder zwei Autos in ihrem Leben verbrauchen können, dann ist die Automobilindustrie eigentlich ziemlich verrückt, daß sie nicht anders mit dieser Kundschaft umgeht. Sie müßte ihr von sich aus andere Leitbilber für das Autofahren als den Rennsport anbieten. Dann könnte sie ihr im Laufe ihres Lebens wesentlich mehr Autos verkaufen.

Fahren Sie Auto?

Ja, aber zunehmend weniger. Ich habe mir gerade ein Fahrrad gekauft.

Und wie kontrollieren Sie Ihre archaischen Triebe hinter dem Steuer?

Ich versuche, mich ihrer Gefährlichkeit bewußt zu bleiben. Da wir uns alle aber mit dieser Hoffnung auf Steuerungsmöglichkeiten durch die Ratio überschätzen, hilft nur die Einsicht, daß wir uns alle gesetzlich begrenzen lassen müssen. Interview: Bascha Mika

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