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Vorbildliche Haftbedingungen

„In a State“ — Eine Ausstellung im Dubliner Kilmainham-Gefängnis  ■ Von Ralf Sotschek

Irland gehört zu beiden Teilen Europas, zu Ost- und Westeuropa, behauptet der Journalist Fintan O'Toole: „Es ist Teil der Europäischen Gemeinschaft, des Europäischen Einheitsmarkts und des transnationalen — oder sogar postnationalen — Staates, der sich mit oftmals verwirrender Geschwindigkeit entwickelt. Aber Irland ist auch Teil des alten, unbeständigen Europas — eines Europas, das immer noch mit den Folgen des Nationalismus aus dem 19. Jahrhundert zu kämpfen hat.“

Irland ist in derselben Lage wie die Länder des marginal gewordenen Europas — den Ländern im Osten, die nicht mehr länger Mitglieder des alten Blocks sind, aber auch noch nicht dem neuen Block angehören. Politisch drückt sich das in der irischen Neutralität aus. Robert Ballagh, der international wohl bekannteste zeitgenössische Künstler der Grünen Insel, glaubt, daß Irland 70 Jahre nach der Staatsgründung noch immer in einer Identitätskrise steckt: „Unglücklicherweise plappern wir Iren unaufhörlich von Definitionen für kulturelle Identität, was lediglich die Existenz eines bedeutenden nationalen Identitätsproblems anzeigt.“

Wohl kein Gebäude eignet sich besser für eine irische Ausstellung zum Thema Europa und den mit einem Europa der 90er Jahre verbundenen Fragen als das Kilmainham- Gefängnis im Westen Dublins. Es symbolisiert das Europa von heute, in dem nationale Utopien und globale Utopien aufeinanderprallen. „Die Architektur des Gefängnisses ist utopisch. Sie entstand aus dem Glauben an die reformierende Kraft einer strukturierten Umgebung“, sagt O'Toole. „Doch seine Geschichte beinhaltet völlig andere Utopien — die Utopien von Träumern, die ihre eigene perfekte Gesellschaft schaffen wollten und dafür hier in diesem Gefängnis endeten.“

Ein Gang durch das von einer dicken Steinmauer umgebene Gebäude gleicht einem Schnellkurs in irischer Geschichte. Seit seiner Eröffnung vor 200 Jahren bis zur Schließung 1924 war das Gefängnis mit irischen Rebellen gefüllt, die den britischen Besatzern in die Hände gefallen waren. Zwar war das Gefängnis bereits 1792 fertiggestellt, doch aufgrund der Französischen Revolution und der befürchteten Auswirkungen auf Irland wurde es noch vor Inbetriebnahme erweitert. Auch die Rebellen des gescheiterten Osteraufstands von 1916 waren hier bis zu ihrer Hinrichtung inhaftiert.

Zur Eröffnung wurde das Gefängnis wegen der vorbildlichen Haftbedingungen gepriesen. Der IRA- Mann Ernie O'Malley, der während des irischen Unabhängigkeitskriegs 1921 den Knast von innen kennenlernte, war jedoch anderer Meinung: „Der Begriff Zuchthaus war zunächst eine Jammerwelt von Kälte bis in die Knochen, Gestank, verstaubtem Licht und erdrückenden Mauern.“ 1921 gelang es O'Malley, zusammen mit zwei Mitgefangenen aus dieser Jammerwelt zu entfliehen. Es war die letzte Flucht aus Kilmainham.

Nach dem Waffenstillstand von 1921 gab die britische Armee das Gefängnis auf. Die neue Regierung des irischen Freistaats übernahm es, während des folgenden Bürgerkrieges brachte sie dort ihre ehemaligen Kampfgenossen unter, die die Teilung des Landes nicht akzeptierten, und exekutierte 77 von ihnen. Der letzte Gefangene in Kilmainham war Eamon de Valera, der spätere Regierungschef und Präsident der Republik Irland. Nach seiner Entlassung im Jahr 1923 wurde der Gefängnisbau sich selbst überlassen und verfiel im Laufe der Jahre. Erst 1960 machte sich eine Gruppe von Freiwilligen an die Restaurierung.

Der Titel der Ausstellung im Ostflügel des Gefängnisses ist doppeldeutig. In a State heißt einerseits „in einem Staat“ und suggeriert Stabilität und feste Strukturen. Der Begriff kann jedoch auch Flexibilität und Chaos bedeuten: „In der Luft hängen.“ Den Widerspruch zwischen diesen beiden Wortbedeutungen nutzt die Ausstellung. O'Toole: „Das Kilmainham-Gefängnis ist eine Institution des historischen Erbes, die versucht, ein Kulturraum zu werden — ein Ort, den wir von 200 Jahren Geschichte geerbt haben, aber dem wir hier und heute einen Sinn geben müssen.“ Er überträgt diese Fragestellung auf Europa: „Was gibt es in unserer kollektiven Vergangenheit, an dem wir festhalten können, ohne darin eingemauert zu werden?“ Ballagh, dessen Karikaturen das Trauma der irischen Hungersnot im vergangenen Jahrhundert sarkastisch „umdeuten“, bemerkte dazu: „Jemand sagte einmal, daß in Irland die Vergangenheit eine große Zukunft habe. Als ob das bestätigt werden soll, werden uns ständig Neuinterpretationen unserer Geschichte präsentiert, die vorrangig das Ziel haben, den Status Quo zu erhalten.“

Die Idee zur Ausstellung geht bereits auf das Jahr 1989 zurück. Damals erhielt Jobst Graeve, Direktor der Project Gallery und Initiator der Ausstellung, per Post aus Berlin ein kleines, bemaltes Stück Mauer: „In derselben Woche besuchte ich in Belfast eine Rita Duffys Ausstellung. Zwei ihrer Hauptwerke zeigten eine Mauer als Trennungslinie zwischen den beiden Gemeinden. In Nordirland gibt es eine ganze Reihe von Künstlern, die sich in ihren Werken mit der Situation in Nordirland beschäftigen.“

Rita Duffys Bilder zeigen vorwiegend Alltagsszenen. Ihr gelingt es, die Spaltung der nordirischen Gesellschaft metaphorisch ins Bild zu setzen. Die Symbole — Rosenkränze, Kleeblätter, Trommeln, Fahnen — tauchen in ihren Bildern immer wieder auf. Über ihr dreiteiliges Ölgemälde Emerging from the Shamrock, das in Kilmainham ausgestellt ist, sagt sie: „Das zentrale Bild ist zu einer Art Selbstportrait geworden. Irische Frauen, desillusioniert von den Idealen des Republikanismus und den Macho-Helden des Nationalismus, treten ins 21. Jahrhundert ein. Die Tafeln links und rechts repräsentieren Staat und Kirche mit ihren Symbolen des Todes, der Emigration, der Heuchelei und der vernagelten Köpfe.“

Neben Duffy und Ballagh stellen 19 weitere irische KünstlerInnen ihre Gemälde, Skulpturen und Installationen in den Zellen von Kilmainham aus. Pauline Cummins hat einen zehn Meter großen Kokon aus Papier geschaffen, der „unsere Entwicklung als Nation und als Menschen“ repräsentieren soll. „Wenn die Viktorianer den gigantischen Schritt unternommen haben, Licht in die Gefängnisse hereinzulassen, dann können wir vielleicht eines Tages die Türen ganz öffnen.“ Alice Mahers Installation heißt Cell, ein riesiger Ball aus Brombeerzweigen, der die ganze Breite der Zelle einnimmt. „In der irischen Sprache ist das Wort ,cillin‘ für Zelle eng verwandt mit ,cill‘, dem Wort für Kirche“, sagt sie. „Cill Mhaighneann (Kilmainham) bedeutet also Maighneanns Kirche (Klosterzelle).“ Geraldine O'Reilly will mit ihrem Gefängnisregister die vielen Gefangenen in Erinnerung bringen, die nicht wegen Widerstands, sondern aus Gründen des Überlebenkampfs — etwa Kartoffeldiebstahl — in Kilmainham einsaßen.

Während im Kilmainham-Gefängnis die Fragen der nationalen Identität Irlands angesprochen werden, wollen drei begleitende Ausstellungen in der Project Gallery den europäischen Kontext herstellen. „Das Problem war, die irische und europäische Komponente der Ausstellung konzeptionell zu verbinden“, sagt Jobst Graeve. „Im Gefängnisarchiv fand ich ein Buch von Arthur Griffith aus dem Jahr 1904, Die Auferstehung Ungarns, Parallele für Irland. Die Vorstellung von Irland als Fallstudie wurde zum Schlüssel für die Auswahl der Ausstellungen aus Deutschland, Österreich und Ungarn.

Den Anfang machten Katharina und Volker Wilczek aus Kassel mit Meditation about the World. Volker Wilczek will mit seinen Menschenbildern zeigen, daß individuelle Wahrnehmung von der Geschichte, den persönlichen Erfahrungen und dem kulturellen Hintergrund beeinflußt wird: „Die Realität versetzt uns in die Lage, dreidimensionale Strukturen im Raum zu identifizieren. Gleichzeitig hängt die Interpretation dieser Realität jedoch von unserem Glauben und unseren Überzeugungen ab.“ Katharina Wilczek weist mit ihren Bildern hin auf die Diskrepanz zwischen meditativer Einsicht und ihrem kulturellen Ausdruck einerseits, und der unter dem Zwang logischer Beweisführung stehenden, rein mechanischen Wissenschaft sowie der mit ihr verbundenen Zerstörung des Lebensraums andererseits. Die Ausstellung wird von experimentellen Filmen der beiden Künstler begleitet, die durch Musik und collagehafte Sequenzen inhaltlich auf das Thema „Individuum und kulturelle Identität“ eingehen.

In a State , bis 22. September. Kilmainham-Gefängnis, Inchicore Road, Dublin. Das Gefängnis ist bis September täglich 11-18 Uhr, Oktober bis Mai Mittwoch und Sonntag 14-18 Uhr geöffnet

Katharina und Volker Wilczek: Meditation About the World , bis 22. Juni. Project Arts Centre, 39 East Essex Street, Dublin

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