SPD gewinnt absolute Mehrheit in Hamburg: Schaler Beigeschmack
■ Entfremdung von den politischen Parteien und Wahlmüdigkeit: Die Nichtwähler waren bei der Wahl ins Hamburger Rathaus die stärkste Gruppierung. Selbst die SPD, die ihren Wähleranteil um drei Prozent steigerte, verlor 50.000 Stimmen. „Sozialliberales Modell“ erhielt eine Abfuhr. Die Grünen als künftige Königsmacher.
Mit 48,0 Prozent der abgegebenen Stimmen holten sich Hamburgs Sozialdemokraten am Sonntag bei der Wahl zur 14. Nachkriegs-Bürgerschaft zum neunten Mal die absolute Mehrheit der Mandate. Sie fiel mit 61 von 121 Sitzen denkbar knapp aus. Noch bei der Wahl zuvor hätte es ein Patt gegeben — damals zählte das Stadtparlament nur 120 Sitze. Die FDP, bis Sonntag Koalitionspartner der SPD und noch bei der Bundestagswahl am 2. Dezember mit 12 Prozent glänzend, purzelte auf 5,4 Prozent.
Noch bitterer der Niedergang der CDU: Sie erzielte mit 35,1 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit 1970, nachdem sie in den 80er Jahren beständig um die 40 Prozent gelegen und oft sogar kurz vor der Machtübernahme gestanden hatte. Eine geradezu sensationelle Wiederauferstehung feierte dagegen die runderneuerte GAL. Mit 7,2 Prozent konnte sie gegenüber 1987 (7,0 Prozent) sogar noch zulegen, obwohl sie nach vielen Monaten des Krachs und der Spaltung erst wenige Wochen vor dem Wahltag durch die Wiedervereinigung von linker Mitte und Realos ihre Politikfähigkeit zurückgewonnen hatte. Jutta Ditfurth und Gregor Gysi können nach dem Votum der „Wahlbewegung 2. Juni Hamburg“, so spöttisch ein Grüner, ihre Parteiprojekte beerdigen. Mit 0,5 Prozent für die auf Systemopposition eingeschworenen Fundis der GAL-Abspaltung Alternative Liste und 0,5 Prozent für die PDS wurde den Plänen der beiden PolitikerInnen, Hamburg zum ersten Standbein, vielleicht gar zur Bastion ihrer linksnostalgischen Parteien zu machen, eine harte Abfuhr erteilt.
In die Freude der SPD über den von ihrer Hamburger Spitze unisono als „einmaliger politischer Lottogewinn in einer Dienstleistungsmetropole“ bezeichneten Wahlsieg mischt sich allerdings auch Sorge. Der alte und neue Stadtchef machte seiner Furcht schon am Wahlabend Luft. Aus Angst vor den eigenen Genossen, bei denen eine gekränkte Abgeordnetenseele schon zur Abstimmungsniederlage führen kann, bot SPD-Bürgermeister Henning Voscherau seinem gedemütigten Ex- Koalitionspartner FDP eine erneute Koalition an, die Voscherau zum unumschränkten Herrscher der neuen Regierung gemacht hätte. Die FDP lehnte kategorisch ab — als bloßer Mehrheitsbeschaffer für einen machtbewußten Stadtchef hätte sie ihre parlamentarische Existenzberechtigung wohl auf Dauer verspielt.
Noch verständlicher wird die Angst vor dem Regieren, wenn man nach den tatsächlichen Ursachen des scheinbar so eindeutigen SPD-Wahlsieges forscht. Mit diesmal bloß 393.000 Stimmen erzielte die SPD nämlich eines ihrer schlechtesten Wahlergebnisse aller Zeiten. So paradox es auf den ersten Blick erscheint: Die SPD verlor gegenüber der Wahl 1987 rund 50.000 Stimmen, legte aber 3 Prozent im Ergebnis zu. Noch frappierender die Differenz zum Bundestagswahlergebnis vom 2. Dezember 1990: Damals landete die SPD mit 41,0 Prozent tief im Keller, benötigte allerdings für ihr schlechtestes Bundestagswahlergebnis aller Zeiten 10.000 Stimmen mehr als bei ihrem grandiosen Wahlsieg am 2. Juni 1991. Des Rätsels Lösung liegt in der geringen Wahlbeteiligung: Die 66,1 Prozent vom Sonntag liegen fast 15 Prozent unter dem Normalmaß. Die Legitimation des Parlaments ist gering wie nie zuvor, die Nichtwähler wurden erstmals stärkste Partei. Von 100 Wahlberechtigten verweigerten sich 35 total, 31 wählten SPD, 23 CDU, 5 GAL, 3 FDP, 2 die Kleinparteien. Kurz: Der SPD reichten 31,3 Prozent der Wahlberechtigten für die absolute Mehrheit der Mandate.
Das Geheimnis ihres Sieges: Die SPD wurde von dieser Wahlmüdigkeit weit weniger gebeutelt als die anderen Parteien. Das bürgerlich-konservative Lager, getragen von den Stimmen der wahlbraven Alten und Reichen, litt erstmals und in sensationell massivem Umfang unter Wahlenthaltung. Selbst die GAL litt in ihren alten Proteststimmen-Hochburgen der Altbauslums unter der Wahlabstinenz.
Die SPD dagegen hatte, eine drohende Wahlenthaltung vor Augen, einen außergewöhnlich konzentrierten, achtwöchigen Kampf um die Stammwähler geführt. Mit Hausbesuchen, Hunderttausenden von Telefonanrufen in ihren Hochburgen und gezielten Wahlgeschenken (Kindergartenplätze, HSV-Bürgschaft) sammelte sie Stimme um Stimme.
Sozialliberales Modell out?
Wider manches Erwarten profitierte die SPD auch vom Scheitern jenes sozialliberalen Modells, welches sie 1987 angesichts einer auf Fundamentalopposition eingeschworenen GAL als Versuchsballon im damals noch tiefschwarz-blau-gelben Deutschland aufsteigen lassen konnte. In der stadtpolitischen Praxis zeigte sich, daß nicht das flott- fröhliche Aushängeschild Ingo von Münch (Senator für Kultur und Wissenschaft), sondern das häßliche Gesicht des Wirtschaftsliberalismus, der Umverteilung (Gewerbesteuersenkung, Privatisierung) und Bodenspekulation (Immobilien- und Grundbesitzerpartei) den politischen Alltag prägte. Trotz anfänglich guten Willens beider Koalitionspartner, der mangels Alternativen (FDP konnte nicht mit CDU, SPD nicht mit GAL) auch ein solides Sachzwangfundament besaß, hatte das sozialwirtschaftsliberale Bündnis nie einen zukunftsweisenden Vorrat an Gemeinsamkeiten aufbauen können. Weder in der Sozial- noch in der Innen-, Wirtschafts-, Finanz- oder gar Verkehrspolitik war so etwas wie ein sozialliberales Profil aufzuspüren. Die Rolle des zukünftigen Mehrheitsbeschaffers für die SPD werden in Hamburg fraglos die Grünen übernehmen. Schon im Wahlkampf betätschelten sie und die SPD sich mit Samtpfötchen. Der ganz auf den Kurs einer ökologischen Bürgerrechtspartei mit einem gesunden linken Traditionalismus eingeschwenkten GAL bieten sich angesichts der überaus knappen Mehrheit der SPD vielfältige Chancen für eigene Profilierungen und Punktkoalitionen. Die neuen Grünen bringen dabei eine neue Stimmensammelqualität mit: Neben ihrer traditionnellen Stärke in Altbauvierteln und bei Jungen wilderten sie diesmal erfolgreich wie lange nicht auch in der CDU- und FDP-Stimmklientel. Florian Marten, Hamburg
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