piwik no script img

FLIEHEN – ABER WOHIN?Schwarzafrika: Kontinent der Flüchtlinge?

Nach UNO-Schätzungen sind in Schwarzafrika 5,7 Millionen Menschen ins Ausland geflohen, 6,8 Millionen haben innerhalb ihres Landes Zuflucht suchen müssen. Die Gründe liegen in der unabgeschlossenen Nationenbildung oder gehen – im südlichen Afrika – auf das Konto Pretorias. Durch die Interventionen der Großmächte wurden sie verstärkt. Wie sehr auch die Flucht vor Dürre und Hunger auf Kriegen und ihren Folgen beruht, ist beispielhaft in Äthiopien zu sehen.  ■ VON WALTER MICHLER

„Unser Jahrhundert ist das Jahrhundert der Flüchtlinge“, sagt der Konfliktforscher Volker Matthies vom Hamburger Übersee- Institut, „Schätzungen zufolge hat es im 20. Jahrhundert ca. 250 Millionen Menschen auf der Flucht gegeben.“ Verglichen damit stellen Schwarzafrikas zwölfeinhalb Millionen interne und externe Flüchtlinge eine eher bescheidene Größe dar. Dennoch gilt Schwarzafrika mittlerweile in den Medien und folglich auch im Bewußtsein der Öffentlichkeit als „Kontinent der Flüchtlinge“. (Zu Schwarzafrika zählen 46 Staaten mit ca. 500 Millionen Einwohnern, nicht aber die fünf arabisch-nordafrikanischen Staaten und Südafrika.)

Die Hunderttausender-Zahlen von Vertriebenen sind für den schlagzeilenorientierten Informationsapparat der Satten ein verkaufsträchtiges Thema, und die zerlumpten wie ausgemergelten Flüchtlingsgestalten garantieren in der Programmvielfalt der Fernsehwelt doch wenigstens einen Hinseh- und keinen Abschalteffekt. Außerdem paßt zum anderen Fehlbild vom hungernden und nach Caritas heischenden Afrika das Bild des Flüchtlingswellen-Kontinentes gut hinzu. Alles gewissermaßen als zynischer Beweis der Geschichte für die Unzivilisiertheit des schwarzen Erdteils. Doch eine solche Perspektive und Darstellung verrät mehr über das Bewußtsein der Desinformanten als über die Realitäten auf unserem Nachbarkontinent. Denn schon die Zahlen – so schlimm sie in der Tat auch sind – sprechen eine andere Sprache: 12,5 Millionen Flüchtlinge, das sind zweieinhalb Prozent der Gesamtbevölkerung Schwarzafrikas. Das Flüchtlingsdrama ist damit nur ein Teil – ein kleiner Teil – des gesamten Not- und Unterentwicklungsspektrums unseres Nachbarkontinents.

Von den zwölfeinhalb Millionen Menschen, die gegenwärtig in Afrika entwurzelt oder vertrieben sind, flohen nach Angaben des UNHCR etwa 5,7 Millionen ins Ausland, während 6,8 Millionen innerhalb ihrer eigenen Staaten an einem anderen Ort Zuflucht suchten. Zu den Flüchtlingszahlen ist zu sagen, daß es kein auch nur halbwegs verläßliches statistisches Material gibt. Auch die UNHCR-Angaben beruhen in der Regel auf Schätzungen und nicht auf Zählungen. Außerdem muß die UNHCR-Behörde die Angaben der Aufnahmeländer übernehmen. Letztere haben aber oftmals ein Interesse, in bezug auf die Anzahl der Geflüchteten zu übertreiben. Damit läßt sich die politisch verfeindete Nachbarregierung zusätzlich desavouieren, und ferner kann man dadurch die kostenlosen Nahrungsmittelhilfe-Kontingente über den tatsächlichen Flüchtlingsbedarf nach oben treiben (vgl. Kasten).

Die größten Fluchtbewegungen der jüngsten Vergangenheit wie auch der Gegenwart konzentrieren sich auf das Horn von Afrika und die Großregion südliches Afrika. Sie sind keineswegs das Ergebnis eines „Spiels okkulter Kräfte“, wie Peter Scholl-Latour in seinem Afrika-Buch Mord am großen Fluß suggeriert. Vielmehr liegen ihre Ursachen in der komplexen, nicht abgeschlossenen Nationenbildung dieser Staaten, und sie gehen im südlichen Afrika zu erheblichen Teilen auf das Konto skrupelloser Machtpolitik des weißen Regimes mit Sitz in Pretoria. Darüber hinaus sind sie aber auch durch den ehemaligen Ost-West-Konflikt bedingt. Das politische Faustpfänderspiel der Großmächte in Afrika mit ihrer Parteinahme und ihren Interventionen verschärfte die Konflikte, ohnehin vorhandene Fluchtbewegungen wurden dadurch erheblich vergrößert.

„Wir sind“, sagt Berhe Tesfamariam von der Hilfsorganisation der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF), „wie die West-Somalis die Opfer eines schwarzen Kolonialismus, und wir sind fest entschlossen, so lange gegen die schwarzen Fremdherrscher in unserer Heimat zu kämpfen, bis wir befreit und unabhängig sind.“ Aus dem von Äthiopien annektierten Eritrea, wo seit 30 Jahren Krieg herrscht, flohen etliche Hunderttausende in den benachbarten Sudan und über 200.000 in das übrige Ausland (insbesondere auf die arabische Halbinsel, ca. 50.000 in die USA und über 10.000 in die Bundesrepublik Deutschland).

Insgesamt beläuft sich die Zahl der Flüchtlinge aus Äthiopien auf 1,6 Millionen Menschen, und zwar nach Angaben des UNHCR. Gleichzeitig hat Äthiopien rund 900.000 Menschen aus den beiden Nachbarstaaten Somalia und Sudan aufgenommen. Und in jüngster Zeit schwoll auch der Strom von Einheimischen in jene Lager an, die für die Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsgebieten Somalias in Ost-Äthiopien errichtet wurden. Die Dürreopfer aus dem äthiopischen Ogaden suchten Rettung bei den somalischen Kriegsflüchtlingen, weil bei ihnen das spärliche Rinnsal der internationalen Hilfe ankommt.

Die Zahl der inländischen Kriegs- und Umweltflüchtlinge Äthiopiens kennt niemand; sicher ist nur, daß die Hauptstadt des Landes während der letzten Jahre um einige hunderttausend Zuwanderer explosionsartig angewachsen ist. Äthiopien ist ein tragisches Beispiel für die Komplexität des politischen Ursachengeflechtes von afrikanischen Fluchtbewegungen wie auch für die kaum entwirrbare Vielseitigkeit der individuellen Abwandermotive. Gleichwohl sind – jedenfalls bei der Mehrheit der Flüchtlinge – die kriegerischen Auseinandersetzungen sowie die Kriegspolitik der Zentralregierung gegen die eigene Bevölkerung (zum Beispiel die inzwischen eingestellte Zwangsverdorfung) der Hauptgrund dafür, daß zirka zweieinhalb Millionen Äthiopier ihre angestammten Dörfer verlassen haben. Eritrea, jener 120.000 Quadratkilometer große, ehemals von Italien kolonialisierte Küstenstreifen am Roten Meer, wurde im Jahr 1962 vom äthiopischen Kaiser völkerrechtswidrig annektiert. Zuvor hatte die UNO dem Gebiet einen autonomen Sonderstatus verliehen und Eritrea in einer Art Konföderation mit Äthiopien verbunden. Hätten die Italiener ihre Kolonie Eritrea nicht während des Zweiten Weltkrieges verloren, sondern einige Jahre später, dann wäre Eritrea – wie alle Kolonien ab den 50er Jahren – ein unabhängiger Staat geworden. Die Annexion Eritreas konnte die äthiopische Zentralregierung nur mit massiver Repression, die mit einer Überfremdungspolitik der staatstragenden Amharen verbunden war, durchsetzen und aufrechterhalten. Hierin liegt einerseits der Grund für den bewaffneten Widerstand eines Großteils der Eritreer und andererseits die Hauptursache für den immensen Flüchtlingsstrom von schätzungsweise 800.000 Eritreern.

In Eritreas südlicher Nachbarregion Tigray brach 1975 der Krieg aus. Viele Tigrays entschlossen sich zum bewaffneten Kampf, weil sie die zentralstaatliche Bevormundung durch die in Addis Abeba praktisch allein regierenden Amharen (ein Fünftel der Gesamtbevölkerung) nicht mehr länger ertragen wollten. Doch anders als bei den Eritreern besteht das Kriegsziel der Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF) nicht in der Errichtung eines eigenen Staates. Die TPLF will vielmehr ein höheres Maß an Autonomie innerhalb eines neuen föderalistischen Äthiopiens durchsetzen. Ein Kriegsziel hat die TPLF schon erreicht: Sie allein kontrolliert seit 1989 Tigray, nachdem es ihr gelang, die äthiopischen Truppen zum Rückzug zu zwingen.

Dennoch kehrten viele Tigrays – vermutlich 100.000 –, die zuvor in den Sudan geflohen waren, nicht in ihre Heimat zurück. Wahrscheinlich ist es die Angst vor der Ungewißheit der weiteren Entwicklung, der ungebannten Kriegsgefahr also, die sie im Sudan hält. Außerdem sind weite Teile Eritreas und Tigrays ökologisch schwer geschädigt, das heißt, die Böden sind derartig ausgewaschen, daß sie für den Lebensunterhalt zu wenig hergeben. Ob es sich hierbei allerdings um irreparable Schäden handelt, ist gegenwärtig kaum zu beurteilen. Denn die kriegerischen Auseinandersetzungen in Eritrea und der latente Kriegszustand in Tigray blockieren Erosionsschutzmaßnahmen und Regenerierungsprogramme auf breiter Front. Erst wenn einmal stabiler Frieden herrscht, wird man nach einigen Jahren Kampf gegen die Desertifikation wissen, welche Gebiete für immer verwüstet sind. Dann wird man auch auf ein anderes Grundproblem besser reagieren können. Denn in Teilen Eritreas und Tigrays gehören periodisch wiederkehrende Dürren zum normalen Klimageschehen. Im Frieden lassen sich die fehlenden Grundnahrungsmittel zu den Menschen bringen, im Krieg müssen die Menschen zu den Hilfsgütern fliehen.

UNHCR-Angaben zufolge sind über 800.000 Äthiopier nach Somalia geflohen. Rund 700.000 strömten nach dem somalisch-äthiopischen Krieg der Jahre 1977/78 über die Grenze. Addis Abeba hatte diesen Konflikt mit enormer Waffenhilfe aus der UdSSR und mit kubanischen Truppen für sich entscheiden können. Die Mehrheit der aus der umkämpften Ostregion geflohenen West-Somalis blieb bis heute in den somalischen Lagern, weil der Krieg den sensiblen Kreislauf ihrer Nomadenwirtschaft zerstört hatte. Ferner trennt sie ein tiefer Graben des Mißtrauens und Hasses von der äthiopischen Zentralregierung und damit von ihrer Heimat. Erst eine neue Regierung in Addis Abeba wird nach der Flucht des Diktators Mengistu diese Rückkehrblockade wirklich aus dem Weg räumen können.

Als die äthiopische Zentralregierung 1986 mit einem Zwangsverdorfungsprogramm auf breiter Front begann, das bis 1990 etwa zwölf Millionen Menschen erfaßte, kam es zu einer neuen Flüchtlingswelle von schätzungsweise 150.000 Äthiopiern (meist Oromos) nach Somalia. Und im Frühjahr dieses Jahres ereignete sich wiederum ein neues Drama: Nach dem Sturz von Siad Barre gab es keinen Frieden in Somalia , sondern es kam zu Auseiandersetzungen der verschiedenen Bewegungen untereinander, die gegen den alten Potentaten gekämpft hatten. Die internationale Gemeinschaft reagierte auf das Nichtzustandekommen einer gemeinsamen Regierung auf ihre eigenen Art: mit einem Embargo humanitärer Hilfe! Zehntausende der nach Somalia Geflüchteten strömten überhastet zurück, mit ihnen gingen über 150.000 einheimische Somalis. Doch in Äthiopien fanden sie nicht die erhoffte Rettung: Die finanziellen Mittel des UNHCR sind längst erschöpft, sie reichen nicht mehr, um bei neuen Flüchtlingsströmen zu helfen.

„Wir leben von der Hand in den Mund,“ bekunden Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der UNO, „unser Budget ist während der letzten zehn Jahre praktisch unverändert geblieben, aber die Zahl der Flüchtlinge hat sich verdoppelt. Pro Jahr und pro Flüchtling haben wir noch 60 DM zur Verfügung.“ Unter der extremen Mittelknappheit hätten insbesondere die afrikanischen Flüchtlinge zu leiden: „Eben weil dieser Kontinent immer mehr in die Vergessenheit gerät.“ Mit Bitterkeit verweisen die UNHCR-Mitarbeiter darauf, daß ihr Gesamtbudget für alle Flüchtlinge dieser Welt gerade so hoch ist wie die Golfkriegskosten nur eines einzigen Tages. „Es liegt also nicht daran, daß kein Geld da ist, sondern am fehlenden politischen Willen, allen Flüchtlingen beizustehen.“

Auch im Sudan, in Mosambik und Angola sowie in Liberia sind die kriegerischen Auseinandersetzungen mehr noch als im Falle Äthiopiens die Hauptursache der enormen Flüchtlingsströme. Während im Sudan unbewältigte koloniale Erblasten und ein immer stärker werdender Islamisierungskurs der Zentralregierung zum Krieg mit dem Süden und damit zur Flucht Hunderttausender führten, ist es in Mosambik seit 1976 eindeutig die Aggressionspolitik des damaligen Rhodesien und später die des weiß regierten Südafrikas gewesen, die das Land mit Krieg überzog und die gemessen an der Gesamtbevölkerung höchste Flüchtlingsrate der Welt bedingte. Über 1,2 Millionen Mosambikaner flohen ins benachbarte Ausland – hauptsächlich nach Malawi –, und weit über zwei Millionen wurden im Inland entwurzelt und heimatlos. Die ehemals sozialistisch orientierte Frelimo-Regierung war für Südafrika Anlaß, eine Rebellenbewegung in Marsch zu setzen und mehr als zehn Jahre lang aufzurüsten. Was lange Jahre im Westen aufgrund südafrikanischer Propaganda als prowestliche Opposition zur Regierung in Maputo gehandelt wurde, hat sich mittlerweile als Terror- und Raubritterbande entpuppt, mit der über Frieden nicht zu verhandeln ist. Am millionenfachen Flüchtlingsleid Mosambiks hat sich der Westen mitschuldig gemacht, denn er ließ seinen Verbündeten Südafrika gewähren, als Pretoria den landesweiten Untergrundkrieg in Mosambik initiierte. Ein kleiner Silberstreifen ist am Horizont in Sicht: Unter der Ägide der USA, UdSSR und Portugals haben in Angola die Kriegsgegner jetzt zum Kompromiß und Waffenstillstand gefunden. Wenn die Vereinbarungen realisiert werden, können die zwei Millionen internen und externen angolanischen Flüchtlinge in ihre Heimatdörfer zurückkehren. Angola und der 1988 ausgehandelte Namibia-Friedensplan belegen aber noch etwas anderes: Wer den Flüchtlingen wirklich helfen will, darf sich nicht auf Nahrungsmittelhilfe beschränken. Schwarzafrikas unübersehbares Flüchtlingsheer benötigt internationale Friedensinitiativen. Tatkräftigere Nothilfe und konzertierte Konfliktvermittlung sind das politische Gebot der Stunde – und humanitäre Selbstverständlichkeit.

Walter Michler arbeitet als Journalist und ist Autor des „Weißbuches Afrika“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen