FLIEHEN – ABER WOHIN?: Verfolgte Frauen
Mehr als drei Viertel dieser Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. In Westeuropa stellen Frauen ein Drittel der Asylsuchenden. Im Iran zum Beispiel werden sie verfolgt, weil sie Normen übertreten haben, die nur für Frauen gelten. Dennoch erkennt das internationale Recht eine geschlechtsspezifische Verfolgung nicht an. ■ VON MARGIT GOTTSTEIN
Flucht birgt für Frauen ein besonderes Risiko. Zum Beispiel der Weg der Boat people von Vietnam über den Golf von Thailand: Die zahlreichen Überfälle von Piraten auf Flüchtlingsboote bedeuteten für Frauen fast immer Entführung und Vergewaltigung. Nach Angaben des UNO-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) wurden zwischen 1980 und 1984 mindestens 2.400 Frauen und Mädchen im Alter von neun bis 67 Jahren auf der Flucht vergewaltigt. Einige tausend Frauen und Mädchen wurden entführt. Aus den wenigen Berichten von flüchtenden Frauen wird deutlich: Die Notwendigkeit, sich ortskundigen, fremden Fluchthelfern anzuvertrauen, brachte sie in eine Situation der Abhängigkeit, die ihnen kaum Spielraum bot, sich gegen sexuelle Übergriffe zu wehren.
Seit westliche Industrieländer mit Visumspflicht und Sanktionen gegen Transportunternehmen wie Fluggesellschaften Barrieren errichten, ist nicht so sehr ein Rückgang der tatsächlichen Zahlen als vielmehr ein Abdrängen der Flüchtlinge in die Illegalität zu beobachten. Die Risiken der Flucht erhöhen sich, und die Preise für gefälschte Pässe und Visa steigen so rapide an, daß Familien meist nur noch die Flucht eines ihrer Mitglieder finanzieren können. Nicht selten fällt die Wahl auf den Mann oder den ältesten Sohn.
Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 versucht, die wichtigsten Fluchtmotive zu erfassen. Nach Artikel 1, Absatz 2 des Abkommens ist ein Flüchtling eine Person, die aus „begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtung nicht in Anspruch nehmen will ...“
In einigen Ländern werden den Frauen fundamentale Rechte verweigert
Eines erfaßt das Abkommen indes nicht: geschlechtsspezifische Verfolgung, die sich oft in Form von sexuellem Terror äußert. In den letzten Jahren machten vor allem iranische Frauen auf dieses Fluchtmotiv aufmerksam. Seit Beginn der 80er Jahre beriefen sich immer mehr Iranerinnen darauf, daß sie als Frauen in einem Staat, der ihnen grundlegende Menschenrechte nur aufgrund ihres Geschlechts verweigert, nicht mehr leben konnten und daher fliehen mußten. Asylanträge von iranischen Frauen enthielten immer häufiger Hinweise auf speziell für Frauen geltende Gesetze und Normen wie der Verschleierungspflicht. Bewußtes oder unbewußtes Übertreten führt zu massiven Sanktionen bis hin zu den islamischen Körperstrafen. Diese geschlechtsspezifischen Fluchtmotive lassen sich mit den in der Genfer Konvention genannten Verfolgungsgründen nicht mehr erfassen.
Verfolgungen aufgrund der Übertretung speziell für Frauen geltender Normen müssen daher in die Liste möglicher Fluchtgründe aufgenommen werden. Geschlechtsspezifische Verfolgung wurde im Fall der iranischen Frauen möglich, weil der Staat – nach der islamischen Revolution – Frauen plötzlich Rechte entzog, die ihnen in den Jahren zuvor noch zugestanden hatten.
Ebensowenig als Motiv anerkannt ist die Situation von Frauen, die sich „arrangierten Ehen“ verweigern oder die außereheliche Beziehungen zu Männern haben, deren Mitgift nicht hoch genug ausfällt. Die Bedrohung für Leben und Freiheit dieser Frauen rührt dabei meist von der eigenen Familie her. Eine starke soziale Kontrolle erschwert es den Frauen, in anderen Staaten Schutz vor Verfolgung zu suchen. Im März 1991 publizierte amnesty international einen Bericht über Menschenrechtsverletzungen an Frauen. Anhand zahlreicher Beispiele wurden weltweit verbreitete sexuelle Übergriffe an Frauen in Verfolgungssituationen belegt: Vergewaltigungen im Rahmen von polizeilichen oder militärischen Operationen sowie sexuelle Folterungen und Mißhandlungen von Schwangeren, die zu Fehlgeburten führen.
Sexuelle Gewalt wird gezielt eingesetzt
Das alles verweist nicht nur auf die spezifische Verletzbarkeit von Frauen, sondern auch darauf, daß sexuelle Gewalt vielfach gezielt eingesetzt wird. Sexuelle Folter an politisch aktiven Frauen kann zum Ziel haben, Frauen auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter zurückzuverweisen.
Vergewaltigungen von weiblichen Angehörigen politisch aktiver Männer, sexuelle Übergriffe auf Frauen einer verfolgten ethnischen oder religiösen Minderheit zielen vielfach darauf ab, dem Mann bzw. der Gruppe die eigene Unfähigkeit als Beschützer „ihrer“ Frauen zu demonstrieren. Insbesondere dann, wenn gesellschaftliche Regeln und Normen Frauen die Vergewaltigung selbst wieder zur Last legen, kann von einer regelrechten „doppelten Verfolgung“ gesprochen werden.
In den letzten Jahren sind die spezifischen Schutzbedürfnisse asylsuchender Frauen international stärker diskutiert worden. Im Vordergrund stand dabei die Frage, ob Verfolgung aufgrund des Geschlechts zu asylrechtlichem Schutz führen kann. Nachdem das Europäische Parlament in seiner Resolution vom 13.April 1984 die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention auf jene Frauen empfahl, die wegen Übertretung moralischer und ethischer Normen ihrer Gesellschaft davon bedroht sind, Opfer grausamer und unmenschlicher Behandlung zu werden, hat auch das Exekutivkomitee des UNHCR die Frage erörtert. Die in diesem Komitee vertretenen Staaten wollten sich der Empfehlung aber nicht anschließen. Einige argumentierten, eine entsprechende Ausdehnung der Konvention sei Kritik an bestimmten religiösen Überzeugungen bzw. sozialen oder kulturellen Gepflogenheiten. Das Exekutivkomitee konnte sich deshalb nur darauf einigen, es jedem Staat freizustellen, die Konvention im Sinne des Europäischen Parlaments anzuwenden – oder eben auch nicht.
Frauen stehen im Asylverfahren meist männlichen Beamten gegenüber
Auch die Asylrechtspraxis ist am männlichen Flüchtling orientiert. Der Katalog der Verfolgungsgründe enthält Verfolgung aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit nicht. Kein Wunder, daß Frauen immer dann, wenn sie vor einer Entscheidungsinstanz darlegen sollen, daß die Art ihrer Verfolgung in sexueller Gewalt bestand, auf besondere Schwierigkeiten stoßen. Denn nur wenige Frauen sind bereit, in einem Anhörungsverfahren gegenüber einem männlichen Beamten oder Dolmetscher von Verfolgungserlebnissen zu berichten, in denen sie Opfer sexueller Gewalt wurden.
Die Behörden sind für eine Befragung durch ausschließlich weibliche Bedienstete sichtlich nicht gerüstet. In der Bundesrepublik ist nur jede dritte der anhörenden Beamten und nur jeder fünfte Dolmetscher eine Frau. Ein Proporz, der keinesfalls gewährleisten kann, daß für jedes Herkunftsland weiblicher Flüchtlinge sowie für jede Sprachgruppe tatsächlich auch weibliche Bedienstete zur Verfügung stehen.
Die verfahrensmäßige Überprüfung von Flüchtlingen ist ein Luxus westlicher Industrieländer. In den großen Flüchtlingslagern der Dritten Welt ist die Frage der Sicherheit von Frauen dagegen hauptsächlich von Faktoren wie ihrer ökonomischen Situation abhängig. Die entscheidet, ob Frauen ihren Lebensunterhalt als Prostituierte verdienen und sich damit zusätzlicher Gefährdung aussetzen müssen. Ihre Sicherheit hängt aber auch von ihrer Stellung im Herkunftsland ab und den Rechten, die Frauen dort eingeräumt wurden, sowie von ihrem aktuellen Familienstatus und davon, ob sie allein oder im Familien- bzw. Sippenverband fliehen konnten.
Soziale Netze und kulturelle Normen, die Frauen nicht nur kontrollieren, sondern auch schützen, lösen sich mit der Flucht oft auf. Frauen stehen so im Zufluchtsland häufig allein vor der Aufgabe, für sich und ihre Kinder zu sorgen.
Wo auch immer der Fluchtweg enden mag – er markiert den Beginn der alltäglichen Überlebens-Arbeit: materiell und psychisch. Einen „sicheren Hafen“ am Ende des Fluchtweges finden Frauen und ihre Familien nur in den seltensten Fällen vor.
Margit Gottstein ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Politische Wissenschaft der FU Berlin.
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