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GEN NORDEN – GEN WESTENIst Nagorny-Karabach bald überall?

Die Nationalitätenkonflikte könnten in den meisten Regionen Osteuropas und der Sowjetunion neue Flüchtlingsströme auslösen: von den Ungarn Siebenbürgens über die Polen in Litauen bis zu den sowjetischen Bulgaren. Während sich die meisten Wanderungsbewegungen innerhalb Osteuropas abspielen werden, gibt es auch Völker ohne Territorien, die es häufiger als bisher nach Westen drängen könnte. Beispiel: die überall diskriminierten Roma.  ■ VON ERHARD STÖLTING

In ganz Osteuropa sind mit der Abkehr vom Sozialismus die nationalen Spannungen gestiegen. Eine der ersten sozialen Gruppen, die Objekt von Feindseligkeit wurden, waren die ausländischen Arbeiter, obwohl ihre Zahl nach westeuropäischen Maßstäben gering war. Sie machten in Osteuropa weniger als ein halbes Prozent der Beschäftigten aus. Insgesamt gab es 1989 in den ehemals sozialistischen Ländern etwa 200.000 Gastarbeiter aus der Dritten Welt. Die meisten waren Vietnamesen, Angolaner, Mosambikaner, Äthiopier oder Kubaner. Überwiegend wollten sie bleiben oder nach Westen weiterwandern. Neben den Roma waren sie das erste Aggressionsobjekt in ganz Osteuropa. In der ehemaligen DDR kam es zu Übergriffen, die bei der Bevölkerung nicht auf offene Ablehnung stießen. In der Tschechoslowakei war die Situation nicht viel anders. Nicht zuletzt in Antizipation volkstümlicher Aversionen, streben auch die Regierungen eine Rückführung der ausländischen Arbeiter an. So beschloß die tschechoslowakische Regierung schon am 23. April 1990, daß die ausländischen Arbeiter das Land vor 1995 zu verlassen hätten.

So klein die Anzahl der ausländischen Arbeitskräfte relativ und absolut gewesen ist, im Verhältnis zu ihnen zeigt sich ein fortbestehender Unterschied zwischen West und Ost. Auch für die liberaleren Länder, zu denen die Tschechoslowakei zählt, gehört jegliche Einwanderung nicht in den Bereich des Vorstellbaren. Das gilt noch weniger für jene Regionen, in denen nationale Leidenschaften und interethnische Spannungen Flüchtlingsströme in Bewegung setzten könnten. Geht es in Westeuropa um die Mechanismen von übernationaler Integration, Regionalisierung und um den möglichen Platz zugewanderter Bevölkerungen, so geht es im Osten um nationale Souveränität und das Ausmaß wünschenswerter Toleranz gegenüber lange ansässigen Minderheiten. In Osteuropa und Ostmitteleuropa werden damit Tendenzen fortgesetzt, die die ganze Region in den letzten hundert Jahren tiefgreifend umgestalteten.

Die nach dem Ersten Weltkrieg aus der Konkursmasse der großen Reiche gebildeten Nationalstaaten hatten das Vielvölkererbe weitergetragen. Jeder von ihnen verfügte über größere „fremde“ Minoritäten. Ihnen gegenüber waren tolerantere oder intolerantere Strategien möglich, immer jedoch stellten sie aus dem Blickwinkel der herrschenden Nation ein „Problem“ dar. Nicht einmal der Ausgang des Zweiten Weltkriegs vollendete die ethnischen Homogenisierungen. Zwar gab es außer in Rumänien und der Sowjetunion keine kompakten deutschen Minoritäten mehr, aber auch weiterhin lebten Slowaken in Ungarn, Ungarn in Serbien, Serben in Rumänien, Rumänen in der Ukraine, Ukrainer in Polen usw. Die nationale „Problematik“ blieb um so akuter, als die herrschenden kommunistischen Parteien den Nationalismus als politisch-gesellschaftlichen Integrationsfaktor subsidiär zur marxistisch-leninistischen Ideologie einsetzten. Als sich deren legitimatorische Wirkung seit den ausgehenden 60er Jahren immer mehr abschwächte, wurden nationalistische Mechanismen eingesetzt. Das galt nicht nur für Polen und die Tschechoslowakei, sondern auch für Rumänien und Bulgarien, die in den ersten Nachkriegsjahren, den nationalen Minderheiten besondere Rechte eingeräumt hatten.

Nun ließ sich über die ungarische Minorität in der Slowakei Druck auf die ungarische Regierung ausüben, die türkische Minorität ließ sich schikanieren, um angesichts einer „türkischen Gefahr“ die Bevölkerung hinter der bulgarischen Regierung zu einen. Aus den gleichen Gründen konnte Ceausescu die Ungarn Siebenbürgens drangsalieren und deren Protest als Separatismus geißeln. Vielfach setzten die nationalistischen Krawalle und Kundgebungen nach dem Zerfall der kommunistischen Herrschaft schon länger verfolgte Strategien fort. Sonderfälle sind die Sowjetunion und Jugoslawien, die als Vielvölkerstaaten konzipiert waren und deren ethnische Inhomogenität in der sozialistischen Periode anwuchs. In ihnen stellen sich die Nationalitätenprobleme am schärfsten.

Nationalitätenkonflikte, hinter denen regionale oder nationale ethnische Homogenisierungsbestrebungen stecken, setzen zwei unterschiedliche Flüchtlingsströme in Bewegung: solche, die in Ländern Unterkunft finden, in denen die Migranten ethnisch zu Hause sein können, und solche, die auf derartige Zufluchtsländer nicht zurückgreifen können. Zu den Migranten des ersten Typs zählen die deutschen Aussiedler aus Rumänien und der Sowjetunion. Von insgesamt 397.000 deutschen Aussiedlern im Jahre 1990 kamen 111.000 aus Rumänien; 150.000 stehen dort noch zur Abreise bereit. 148.000 Aussiedler kamen aus der Sowjetunion, 50.000 mehr als 1989. Die verschärften Einreisebestimmungen haben die Aussiedlerzahlen aus Polen 1990 gegenüber 1989 auf 134.000 halbiert. Die Deutschen stellten neben den 200.000 hauptsächlich nach Israel ausreisenden Juden 1990 das Hauptkontingent der insgesamt etwa 400.000 Auswanderer aus der Sowjetunion. Die übrigen waren vor allem Griechen, die nach Griechenland und Armenier die in die USA oder nach Frankreich wollten. Die Besonderheit dieser Migrationen war bisher, daß sie sich relativ kontrolliert und geplant vollzogen.

Weniger kontrolliert und abgefedert vollzog sich bereits 1988 die Massenemigration bulgarischer Türken, nachdem die Regierung Todor Schiwkows sie – aber auch die bulgarischsprachigen Moslems, die Pomaken – vor die Alternative stellte, auszuwandern oder Bulgaren zu werden, d.h. christlich-bulgarische Namen anzunehmen und ihre Sprache nicht mehr zu benutzen. Türkische Rundfunksendungen, Zeitungen und Schulen waren schon in den sechziger Jahren beseitigt worden. Die Türkei konnte die 300.000 Menschen, die ins Land kamen, nicht verkraften. Der Exodus schuf andererseits der bulgarischen Landwirtschaft erhebliche Schwierigkeiten, die auch durch eilends angeworbene Vietnamesen nicht behoben werden konnten. Die schwer erträglichen Bedingungen in der Türkei veranlaßten dann jedoch etwa die Hälfte der Ausgewanderten zur Rückkehr nach Bulgarien. Dort hatten aber inzwischen Bulgaren ihren Platz eingenommen. Die ethnisch gemischten Regionen wurden so zu akuten Konfliktherden. Die weitere Entwicklung ist ungewiß. Es ist möglich, daß eine Verschärfung des politischen Klimas den Flüchtlingsdruck auf die Türkei wieder erhöht.

Eine weitere Verschärfung der ethnischen Konflikte könnte fast überall in Osteuropa ähnliche Flüchtlingsströme in die „Heimatländer“ auslösen: bei den Ungarn Siebenbürgens, der Vojvodina oder der Slowakei sowie bei den zwei Millionen Polen Litauens, Weißrußlands oder der Ukraine. In der sowjetischen Karpato-Ukraine bzw. dem Oblast Volyn leben etwa 163.000 Tschechen und Slowaken, die bisher allerdings keinen Emigrationswunsch gezeigt haben. Konflikte in der Sowjetunion könnten auch zu einer Fluchtwelle der 370.000 sowjetischen Bulgaren – davon 233.000 in der Ukraine und 90.000 in Moldawien – führen.

Sollten sich die Nationalitätenkonflikte in der Sowjetunion verstärken und zu einer ethnischen Entmischung führen, wären die Flüchtlingsströme allerdings zunächst überwiegend Binnenwanderungen. Einige finden bereits statt. So sinkt der Anteil von Europäern in Mittelasien nicht nur relativ wegen der höheren Geburtenrate der muslimischen Mittelasier, er sinkt auch absolut, da es inzwischen eine starke Abwanderungsbewegung gibt. Die Unruhen in Duschanbe Anfang 1990, bei denen es 18 Tote gegeben hatte, führten zur Abwanderung von 23.000 Russischsprachigen, darunter viele Spezialisten. Das hatte zur Folge, daß wichtige gesellschaftliche Funktionen nicht mehr erfüllt werden konnten. So beeinträchtigte der Exodus den zivilen Flugverkehr in Tadschikistan, weil Piloten fehlten; das Heizkraftwerk von Duschanbe blieb kalt, weil die Heizungstechniker geflohen waren. Noch schlimmere Folgen hatte die Flucht der Russen aus der tuwinischen ASSR.

Exemplarisch für die fluchtauslösenden ethnischen Konflikte war der aserbaidschanisch-armenische Konflikt um Nagorni-Karabach. Die meist in der Landwirtschaft beschäftigte aserbaidschanische Bevölkerung Armeniens floh fast ausnahmslos ins Nachbarland. Das gleiche galt für die meist zur Mittelschicht gehörenden Armenier Aserbaidschans, vor allem nach den Pogromen von Sumgait und Baku. Insgesamt wurden etwa 500.000 Menschen in Bewegung gesetzt. Dafür haben sich – eine Neuigkeit in der Region – ethnisch homogene Territorien herausgebildet.

Die Roma: wie eh und je das Aggressionsobjekt für alle anderen

Auf die Dauer gravierender könnten jedoch die Probleme jener Völker werden, die über keine eigenen Territorien verfügen. Ihre Flucht könnte sich häufig weitaus direkter nach Westeuropa richten. Paradigmatisch dafür ist die Lage der Roma. Die demokratischen Umbrüche haben den in Osteuropa traditionellen Haß auf die Roma in besonderer Weise – und dies selbst bei Intellektuellen – freigesetzt. Sie sind in allen osteuropäischen Ländern ein besonderes Aggressionsobjekt. In Nordböhmen griffen Skinheads bereits Anfang 1990 neben Vietnamesen auch Roma an. Roma befinden sich daher auch überdurchschnittlich häufig unter den Asyl begehrenden Flüchtlingen. Zu ihnen gehörte die Mehrzahl der 22.114 Jugoslawen, 8.341 Bulgaren und 35.345 Rumänen, die 1990 in Deutschland um Asyl nachsuchten. Die Migration aus Rumänien hatte schon unter Ceausescu in solchem Ausmaß begonnen, daß der Verdacht auftauchte, der Diktator wolle sich einer ungeliebten Bevölkerungsgruppe entledigen. Nach dem Umsturz im Dezember 1989 verwandelte sich diese Migration in einen Exodus, gegen den in den Zielländern Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, aber auch die Bundesrepublik, Frankreich, Italien, Schweiz, Österreich, Schweden, Jugoslawien, Griechenland und Türkei Gegenmaßnahmen ergriffen wurden. Inhaber eines rumänischen Passes hatten zwar die Möglichkeit, ihr Land zu verlassen, aber sie fanden kaum noch eines, das sie legal betreten konnten.

Da die Roma statistisch nicht gesondert ausgewiesen werden, sind über ihre Zahl nur Schätzungen möglich. In Rumänien könnten etwa zwei bis drei Millionen leben, d.h. zehn Prozent der Bevölkerung. Etwa eine Million leben in Jugoslawien, 700.000 in Bulgarien, ebenso viele in Ungarn, 400.000 in der Tschechoslowakei. Die Roma sind durchschnittlich schlechter ausgebildet als die übrige Bevölkerung, häufig sind sie Analphabeten, ihre Geburtenrate ist besonders hoch, die Lebenserwartung besonders gering. Während in Bulgarien z.B die Kindersterblichkeit insgesamt bei vier Prozent liegt, beträgt sie bei den bulgarischen Roma um 24 Prozent.

Das Elend der Roma könnte auch andere Minderheiten ohne territorialen Bezugspunkt nach Westeuropa in Bewegung setzen. Das deutet sich etwa bei den sowjetischen Mes'cheten an, die 1989 Gegenstand eines Pogroms im usbekischen Fergana- Tal wurden. 60.000 von ihnen flohen aus Usbekistan. Der Empfehlung einer Sonderkommission des Obersten Sowjets der Sowjetunion entsprechend, zog ein Teil von ihnen in ihre angestammten Wohnsitze in Georgien zurück, von wo sie durch Stalin 1944 deportiert worden waren. Dort wurden sie jetzt durch die inzwischen ansässigen georgischen Bewohner, die von der georgischen Nationalbewegung unterstützt wurden, wieder vertrieben. Nun wohnen sie über die RSFSR verstreut, oft in ländlichen Regionen außerhalb der Schwarzerdegebiete, aus denen die einheimische Bevölkerung ihrerseits in die Städte abgewandert ist. Die alte Zusammengehörigkeit aufrechtzuerhalten, ist in dieser Zerstreuung nicht mehr möglich. 5.000 bis 10.000 Mes'cheten wollen nun in die Türkei auswandern.

In Europa schwang derweil in vielen Auseinandersetzungen die Vorstellung einer nach Europa vordringenden Immigrationswelle mit. Die Furcht, die hungrigen Bewohner der Dritten Welt könnten wie die Heuschrecken über die reiche Erste Welt kommen, sie leerfressen und kahl und öde zurücklassen, schwang unterschwellig in vielen Auseinandersetzungen mit. Mitschwingen konnte auch die Furcht des 19. Jahrhunderts vor der zerstörerischen Irrationalität der „Masse“.

Am ausführlichsten ist das Bild seit längerem auf konservativer Seite auf die Asylbewerber angewendet worden. In jüngerer Zeit waren sie es, an denen sich die Furcht vor der Flut festmachte. Das Bild der von einem barbarischen Osten her nach Europa einflutenden Menschenmassen wurde durch die Grenzöffnungen gleichsam erneuert.

Europas Angst vor dem „Einmarsch“ der Dritten Welt

Bei diesen angenommenen Gefahren wird der Begriff der Grenze bzw. die Differenz von innen und außen wichtig. Die oftmals nostalgischen Debatten um eine „europäische Identität“ oder um „Mitteleuropa“ erhalten einen handfesten Bezug. Das durch Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland und die Beneluxländer vereinbarte „Schengener Abkommen“ sieht nicht nur die Abschaffung der Grenzkontrollen und das freie Niederlassungsrecht vor, es verlangt auch eine Vereinheitlichung der Außenkontrollen und neue grenzübergreifende Polizeistrukturen. In den Zollgrenzen aber verkörpert sich die europäische Identität: Sie definieren, was europäisch ist und was nicht. Die Definitionen kultureller Zugehörigkeit erhalten damit ihre mehrdeutige Brisanz. Auf der einen Seite soll der gesamte europäische Raum – auch mit Hilfe der EG wieder hergestellt werden. Denn grundsätzlich geht die europäische Migrationspolitik davon aus, daß die Region voller Menschen sei. Eine weitere Zuwanderung wolle man auch von Osten her nicht haben. Daher auch diskutierte der Europarat am 24. Januar 1991 auf einer Sondersitzung in Wien, wie der befürchteten „Völkerwanderung“ zu begegnen sei.

Die Definition der Ostgrenze kann also lebenswichtig werden. Die eine Extremposition läßt Europa an Oder und Böhmerwald enden, die andere verlegt die Ostgrenze an den Ural oder gar an den Pazifik. Die politischen Motive können quer zu kulturhistorischen Nostalgien liegen. Für die reichen Industrieländer der EG gehört Ostmitteleuropa nicht mehr zum richtigen Europa. Die Dämme müssen bereits ihm gegenüber gezogen werden. Eine ganz andere Grenze hingegen fordern Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen, aber auch die baltischen Länder, Slowenien und Kroatien. Ihre politischen Umbrüche sollten gerade einen „Rückweg nach Europa“ einleiten. Der historische Bezug auf die „europäische Identität“ korrespondiert mit der Hoffnung, der reiche Teil Europas werde bei der Beseitigung der Wirtschaftsmisere behilflich sein. Das katholisch-protestantische östliche Mitteleuropa hätte dafür wieder die Funktion, das zivilisierte Europa vor dem asiatischen Ansturm abzuschirmen. Das aber setzt eine Kooptation voraus. Die Dämme werden also an der Grenze zum orthodoxen Europa, zu Rumänien, Bulgarien und der Sowjetunion errichtet. Dieser Konzeption entsprachen die Maßnahmen. Nachdem kurz nach dem Sturz Ceausescus rumänische Flüchtlinge – überwiegend Roma – nach Polen kamen, die von Betteln, Gelegenheitsarbeiten und kleinen Diebstählen lebten, verschärfte das Land die Einreisebedingungen. Polen ist der Genfer Flüchtlingskonvention allerdings auch nach dem politischen Umschwung nicht beigetreten, es kann sich noch keine Aufnahme von Flüchtlingen leisten. Vor allem jedoch wurden Truppen von der West- an die Ostgrenze verlegt. Die Regierung bereitete sich überdies auf den schlimmsten Fall vor: die Massenflucht aus der Sowjetunion. Bislang hat diese Massenflucht aber nicht stattgefunden. Von den vier Millionen, die 1990 ins Land kamen – gegenüber 1989 eine Steigerung um 67 Prozent – sind fast alle in die Sowjetunion zurückgekehrt.

Die ehemaligen Bruderländer machen die Schotten zur Sowjetunion dicht

Auch die Tschechoslowakei wappnete sich. Anfang Dezember 1990 verstärkte sie ihre Grenzanlagen zur UdSSR und verlegte dorthin ihre bisher im Westen stationierten Grenztruppen. Der Einsatz von Schußwaffen für den Fall, daß die Flüchtlingsströme kommen, wird diskutiert. In anderer Hinsicht ist die Tschechoslowakei allerdings liberaler als Polen. Das neue, am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Flüchtlingsgesetz basiert auf der Genfer Konvention und den Protokollen von Bellagio, denen die Tschechoslowakei allerdings noch nicht beigetreten ist. Im Dezember 1990 gab es 1.200 Flüchtlinge in vier böhmischen Lagern. Darüber hinaus sind bislang keine Flüchtlingsströme gekommen.

Auch Ungarn hat seine Grenzen zur Sowjetunion befestigt und Truppen von der Westgrenze dorthin verlegt. Seine Flüchtlingspolitik folgt spezifisch nationalen Bedürfnissen. Nach Ungarn kam zwar die größte Anzahl von Flüchtlingen, die meisten von ihnen sind jedoch Ungarn aus Siebenbürgen. Um für sie eine finanzielle Unterstützung zu erhalten, ist das Land schon im März 1989 der Genfer Konvention beigetreten. Dafür mußte es jedoch seine Hilfe auch auf die 100 bis 200 Flüchtlinge aus der Dritten Welt ausdehnen. Gemeinsam verstehen sich Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn als europäischer Riegel gegen eine Zuwanderung von Osten. In diesem Sinne wird die Abwehr an der Grenze vereinheitlicht. Vor allem aber wollen die drei Länder erreichen, daß ihr Flüchtlingsproblem als europäisches Problem anerkannt wird und sie mit finanzieller Unterstützung aus dem Westen rechnen können. Eine solche Begrenzung findet Widerspruch in Bulgarien, Rumänien, ja selbst in der Ukraine. Asien, aus dem die Invasionen immer kamen, beginnt erst an der russischen Grenze. Einer relevanten und traditionsreichen Strömung zufolge, gehört auch Rußland selbst zu Europa. Beim Bau des Hauses, das kein Flüchtlingslager sein soll, dürfte es nicht vergessen werden.

Trotz aller kulturellen „europäischen“ Diskurse entsprechen den unterschiedlichen Grenzziehungen „Europas“ mithin soziale und diskursive Realitäten. Hinter dem Wohlstandsgefälle tauchen Unterschiede der politischen Selbstverständlichkeiten auf. Frankreich, Großbritannien, Deutschland oder Italien lassen sich als Zielländer für Migrationen sehen. Das das bei den osteuropäischen Ländern nicht der Fall ist, liegt nicht nur an ihrer Armut. Sie befinden sich fast ausnahmslos auf dem Weg zu jener nationalen Homogenisierung, die das reiche Europa sich – gegen einige Widerstände – aufzugeben entschließt. Die Differenz wird durch jene zweite, in der Europa und die Dritte Welt unterschieden werden, nicht widerlegt.

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