: Boxhamsters
■ Einen Augenblick zu lang im Paradies
In Zeiten der Wiedervereinigungen und Auferstehungen zahlloser Bands und Musikstile sowie deren entsprechenden Kulturen verliert man sehr schnell den Blick für das Besondere. Die Doors, mit Gewalt aus dem Grab über die Leinwand in die Discos gezerrt, pleteaubesohlte Kids, die zu 60er gefärbtem Rave-Getöse zappeln, eine Welle, die mal die Neue Deutsche genannt wurde und jetzt wieder mit verstaubter Gischt hiesige Soundtempel befeuchtet, und, und,... Nichts, wo sich die Ableger der Subkulturen von damals wohlfühlen könnten. Wo sind sie geblieben, die Punkhorden, die »Wir bin Hardcore-Punx«. Viele haben sich in der amerikanischen Gitarrenmusik verloren und sind darin umgekommen. Deutscher Hardcore, wenn es ihn denn noch gibt, klingt meistens amerikanisch und ist durch die »zweite Gitarre« da gelandet, wo niemals jemand hinwollte: zu den Kollegen aus der metallverarbeitenden Industrie.
Doch da tauchen plötzlich vier Jungs (mit zwei Gitarren) aus Gießen auf, machen eine neue Platte, nennen sie »Tötensen« und versetzen unsere Ohren in ungeahnte Gitarrensphären. Laut und schnell mit deutschen Texten zu versehen, bei denen es sich mal wieder lohnt, genau hinzuhören. Deutschen Hardcore-Punk machen die so einfach da im Jahre 1991 — aber so intelligent, daß der Slime-Fan von damals und der Neil Young- Jünger von heute gemeinsam mit den Boxhamsters auf eine musikalische Entdeckungsreise gehen können. Wohin diese Reise geht, bleibt jedem selbst überlassen. Auf jeden Fall geht es mit großem Abstand am Fun-Punk vorbei und Polit-Rock wird da auch nicht verbreitet — einfach mit netten kleinen Geschichten dem System war vor die Fresse haun.
Eingehüllt in bombastischen Gitarrensound verbreiten die vier Punks mit ihrer Musik bereits beim Hören gute Laune, weil sie mit einer unverschämten Selbstverständlichkeit aus ihren Instrumenten Töne rausholen, die so zwar geliebt, aber eigentlich schon vergessen waren: Gitarrenintro-Basslauf-Ab geht die Post. Daneben versetzen sie ihre Zuhörer mit ruhigen balladenhaften Stücken in fast schon traurige Stimmungen, um sich dann im Noise-Dschungel zu verlieren, nicht ohne die Gewissheit, daß es danach wieder losgeht. Sie selbst vergleichen ihre Musik mit einer Achterbahnfahrt durch das Lebenslabyrinth mit durchaus positiven Auswirkungen auf Geist und Körper.
»Herr, ich hoffe Du verzeihst mir, daß ich glaubte, einen Augenblick im Paradies zu sein«, zitieren die Boxhamsters am Ende ihrer neuen Platte Don Camillo. Ich kann mich nur anschließen. Jürgen Zilla
Um 22 Uhr im K.O.B.
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