: Coppinos Coup auf dem Coppi-Gipfel
In eindrucksvoller Manier gewann Spitzenreiter Franco Chioccioli die Königsetappe des 74. Giro d'Italia und steht kurz vor dem Gesamtsieg/ Nach Greg LeMond gab auch Laurent Fignon auf ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) — Nachdem das über 2.700 Meter hohe Stilfser Joch wegen Lawinengefahr aus dem Streckenplan des 74. Giro d'Italia gestrichen werden mußte, wurde einmal mehr dem Pordoi (2.239 Meter) die Ehre zuteil, zur „Cima Coppi“, zum Coppi-Gipfel, ernannt zu werden. So heißt als Hommage an Italiens größten Radfahrer, Fausto Coppi, traditionell der höchste Punkt des Giro. Für „Coppino“, den kleinen Coppi, wie der Träger des rosa Trikots, Franco Chioccioli, wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Altvorderen genannt wird, natürlich eine ganz besondere Verpflichtung.
Chioccioli kam dieser mit jener Inbrunst nach, die ihn bereits auf den schweren Bergetappen der vorhergehenden Tage ausgezeichnet hatte. Am Montag zum Beispiel, als alle Welt darauf wartete, daß die großen Favoriten Bugno, Chiappucci und Lejarreta endlich zum Angriff schreiten und den schmächtigen Toskaner in die Schranken weisen würden. Kaum ging es jedoch den Mortirolo mit seiner teilweise sechzehnprozentigen Steigung hinauf (Marino Lejarreta: „Nie zuvor bin ich solch einen Paß wie den Mortirolo gefahren“), war es Chioccioli selbst, der angriff und nicht nachließ, bis er die lästige Konkurrenz abgeschüttelt hatte. Zeitweise betrug der Vorsprung des Spitzenreiters zweieinhalb Minuten und nur Lejarreta war es zu verdanken, daß die Verfolger den Rückstand schließlich noch unter eine Minute drücken konnten.
„Gegen diesen Chioccioli gibt es keine Möglichkeiten zu gewinnen“, resignierte Gianni Bugno, eine Einschätzung, die Coppino auf der 17., der Königsetappe, eindrucksvoll unterstrich. Am Pordoi, der gleich zweimal zu erklimmen war, wiederholte der Mann im rosa Trikot sein Kabinettstück vom Mortirolo, trat sechs Kilomter vor dem Gipfel mit Urgewalt an, holte den ausgerissenen Marco Giovannetti ein, flog förmlich an ihm vorbei und gewann souverän die Etappe.
Insgesamt war an diesem Tag ein Höhenunterschied von 3.779 Metern zu bewältigen, zuviel für Laurent Fignon, der aufgab, zuviel für Marino Lejarreta, der sich offenbar am Mortirolo verausgabt hatte, und auch zuviel für Gianni Bugno, der über dreieinhalb Minuten verlor. Nur Claudio Chiappucci konnte einigermaßen folgen, dürfte aber im Zeitfahren nicht gut genug sein, um Chioccioli den Sieg beim Kampf gegen die Uhr am Samstag noch entreißen zu können.
Ein Triumph beim Giro sichert gleichzeitig Chiocciolis Zukunft als Radprofi, denn Stefano del Tongo, Besitzer des Del-Tongo-Teams, der sich eigentlich nach dieser Saison zurückziehen und seinen Rennstall auflösen wollte, erklärte: „Wenn Chioccioli den Giro gewinnt, mache ich im Radsport weiter.“ Auch für del Tongo kommt die Leistungsexplosion seines Kapitäns offensichtlich völlig überraschend. Bisher hatte Chioccioli zwar siebzehn Etappen bei verschiedenen Rundfahrten gewonnen, ansonsten aber nie im Rampenlicht gestanden. Nun, mit fast 32 Jahren, steht er plötzlich dicht vor dem Girosieg, in Italien nach wie vor das Non-plus-ultra des Radsports.
Überhaupt nicht erstaunt über die späte Blüte des Franco Chioccioli ist der Wissenschaftler Francesco Conconi, der 1984 Francesco Moser, damals ebenfalls im fortgeschrittenen Radfahreralter, physisch auf Giro- Sieg und Stundenweltrekord vorbereitete: „Der Radsport ändert sich und wir erleben jetzt eine Rückkehr der großen Alten. Die Physis eines Rennfahrers ist wesentlich kompletter, wenn er die 30 überschritten hat.“
Gleichzeitig werden die Anforderungen größer. Die Flachetappen in Oberitalien wurden mit einem Durchschnittstempo von 42 Stundenkilometern zurückgelegt und der dreifache Toursieger Greg LeMond, der nach der 13. Etappe aufgab, bereute es angesichts dieses Höllentempos bitter, überhaupt mitgefahren zu sein. „Der Giro hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert“, stellte er fest. „Er wird viel härter gefahren. Ich glaube nicht, daß noch jemals ein Fahrer im gleichen Jahr Giro und Tour für sich entscheiden kann.“ Franco Chioccioli dürfte das im Augenblick ziemlich egal sein. Ihm würde der Giro erst einmal vollauf genügen.
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