INTERVIEW
: „In früheren Zeiten hätte sich in Indien niemand als Hindu bezeichnet“

■ Romila Thapar, die führende Analytikerin des Hindu-Fundamentalismus, über die Umdeutung indischer Traditionen und den Traum vom „hinduistischen Vatikan“

Romila Thapar, Spezialistin für frühe indische Geschichte, gilt als führende Analytikerin zum Thema Hindu-Fundamentalismus. Die Professorin unterrichtet an der Jawaharlal Nehru University, die als Dehlis linke Universität bezeichnet wird.

taz: Vor welchem traditionell-religiösen Hintergrund muß man den Hindu-Fundamentalismus sehen?

Romila Thapar: Der Hinduismus ist keine Religion, die auf historisch festlegbaren Ereignissen beruht. Der Hinduismus hat keinen Gründer und kein Heiliges Buch. Auch eine organisierte „Kirchenstruktur“, gemeinsame Gottesdienste und vor allem die Bekehrung fehlen in hinduistischen Religionen. Ich spreche bewußt von Religionen im Plural, weil „Hinduismus“ ein relativ neuer Begriff ist. Niemand bezeichnete sich vor dem 15. Jahrhundert als „Hindu“. Die Menschen identifizierten sich mit der Sekte oder der Kaste, zu der sie gehörten. Religiöse Sekte, Kaste, Sprache und Region waren die Faktoren zur Identifikation, nicht Religion.

Wann begann sich dies zu ändern?

In den letzten zwei Jahrhunderten verbreitete sich die Idee, daß in den hinduistischen Religonen etwas fehlte. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert gab es viele Reformbewegungen, die versuchten, hinduistischen Glauben und dessen Rituale der christlichen Form der Religion anzugleichen. Es entwickelte sich das Konzept von „religiösen Gemeinschaften“, das von der britischen Kolonialregierung gefördert wurde. Eine Identifizierung der Menschen mit bestimmten religiösen Gemeinschaften hat es so niemals zuvor gegeben. Als sich in der Kolonialzeit einmal die Idee durchgesetzt hatte, daß die Geschichte der indischen Gesellschaft vor allem eine Geschichte der religiösen Gruppen gewesen sei, begann sich diese — meines Erachtens falsche — Interpretation auch auf die Politik auszuwirken. Seit dem frühen 20. Jahrhundert ist mit Religion Politik gemacht worden.

Auf welche Weise nahm die Veränderung in der Religion Einfluß auf die Politik?

Religiöse Identiät wird für politische Ziele benutzt, so z.B. im Falle Hinduismus und Islam. Sie hat zur Teilung des Landes in Indien und Pakistan geführt. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Kluft noch vergrößert.

Wie versuchen die Hindu-Fundamentalisten die Veränderungen im Hinduismus durchzusetzen?

Die Fundamentalisten möchten die hinduistischen Sekten und Glaubensrichtungen zu einer einzigen Religion vereinheitlichen, zu einer einzigen Form des Hinduismus. Sie wollen einen „Gründervater“ des Hinduismus kreieren. Deshalb hat es kürzlich den Versuch gegeben, den mythischen Helden Ram aus dem berühmten Epos Ramayana zum Gründer des Hinduismus zu erklären. Ram ist die Inkarnation des Gottes Vishnu. Also wird das Ramayana zum Heiligen Buch und das Territorium, wo das Ramayana spielt, zum Heiligen Land. Es gibt auch Versuche, eine zentralisierte religiöse Organisation aufzubauen, also eine Art Vatikan für den Hinduismus zu schaffen. Es werden Gemeinschaftsgottesdienste gehalten; die Strukturen werden wirklich systematisch aufgebaut. Und neuerdings gibt es sogar die Bekehrung. Bekehrt werden soll man aber nur in jene Form des Hinduismus, von der die Fundamentalisten behaupten, sie sei die ursprüngliche. Dies alles ist dem Hinduismus traditionell völlig fremd.

Warum ist diese neue Form des Hinduismus auf so viel Interesse gestoßen?

In den religiösen Veränderungen liegt eine Modernisierung. In Indien ist „Modernisierung“ gleichbedeutend mit „Verwestlichung“. Vor allem die Mittelklasse imitiert den Lebensstil der sogenannten „Ersten Welt“, und sie versucht Parallelen zu ihrer eigenen Tradiiton zu finden. Bezüglich der Religion sucht sie Parallelen zum Christentum im indischen Kontext. So sind viele Angehörige der Mittelklasse bereit, einen flexibleren Glauben, verschiedene Kulte und Riten, die allen den Hinduismus ausmachen, gegen etwas fest Definiertes einzutauschen, einen Glauben mit einer scharf umrissenen Identität. Da gehört man entweder dazu oder nicht — auch das ein an sich fremdes Konzept im hinduistischen Glauben.

Ist diese Entwicklung neu?

Es hat zwar fundamentalistische Bewegungen in den späten zwanziger und dreißiger Jahren gegeben, aber sie waren nie in so großem Stil organisiert wie jetzt. Die BJP hat Religion zum wichtigsten Gegenstand ihrer Politik gemacht. Die Politisierung des Fundamentalismus besteht darin, daß im Namen eines vereinheitlichten Hinduismus politische Forderungen gestellt werden. Diese Gesellschaft besteht zu 80 Prozent aus Hindus, also — so wird gefordert — sollen Hindus darüber entscheiden, was indische Politik, Gesellschaft und Kultur sein sollen. Dahinter steht die Idee, daß eine religiöse Mehrheit auch gleichzeitig eine politische Mehrheit sein soll, was einfach absurd ist, weil es politischen und religiösen Traditionen Indiens zuwiderläuft.

Es scheint, als würden die Fundamentalisten — bei dieser Wahl die BJP — zunehmend an Einfluß gewinnen. Wird sich das auf den Hinduismus auswirken?

Ein Wahlsieg der BJP könnte im schlimmsten Fall die Errichtung eines theokratischen Staates bedeuten, obwohl die Partei dies weit von sich weist. Aber wenn sie einen Hindu-Staat will, dann wird es natürlich einen Unterschied zwischen dem Status eines Hindus und eines nicht-hinduistischen Staatsbürgers geben, und der Hinduismus wird von den fundamentalistischen Gruppen definiert werden. Die Flexibilität und Offenheit der hinduistischen religiösen Traditionen würde allerdings völlig zerstört beim Versuch, eine einzige Identität aufzubauen und zu entscheiden, was ein „guter Hindu“ ist.