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Neunhundert Tage

■ »Überleben« — Eine Ausstellung im Saalbau

Der Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden zu vertilgen. Nach dem Sieg über Sowjetrußland wird es für das Weiterbestehen dieser Stadt nicht den geringsten Anlaß geben.« Die Siegesfeier des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht wurde für den Herbst 1941 im Traditions- Nobelhotel »Astorja« geplant. Es kam anders: Vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 dauerte die Blockade Leningrads. Sie stellt eine der größten Katastrophen des Zweiten Weltkrieges dar, hierzulande totgeschwiegen, ein weißer Fleck in der Geschichtsschreibung. Es ist ein Verdienst des Kunstamts Neukölln, dieser Lücke mit der Ausstellung »Überleben« abhelfen zu wollen; sie stellt gleichzeitig eine notwendige Ergänzung zur Ausstellung Der Krieg gegen die Sowjetunion im Martin-Gropius-Bau dar, in der im wesentlichen die militärische Seite des »Unternehmens Barbarossa« dokumentiert wird.

Anhand einer umlaufenden Reihe von 150 kleinen Schwarzweißfotos, Dokumentarmaterial aus dem Museum für Geschichte der Stadt Leningrad, meist von Amateuren gemacht und teilweise zum erstenmal außerhalb der Sowjetunion gezeigt, wird der Überlebenskampf, das Sterben, aber auch der Alltag während dieser 900-Tage-Blockade gezeigt, bei der mehr als eine Million Menschen den Tod fanden.

Die Fotos sind nach Einzelaspekten in kleine Untergruppen eingeteilt: Man sieht die äußerliche Verwüstung der Stadt, das zerschossene Katharinenpalais in Puschkin (zarskoje selo), die Ruine des Kirow- Theaters, die Eremitage nach der Bombardierung, zerstörte Friedhofsanlagen, das Lenin-Denkmal, das mit Sandsäcken und Erde vor der Zerstörung gesichert wird. Und die Folgen der deutschen Angriffe in den Innenräumen: Leute, die mit Pelzmänteln und -mützen in Konzertsälen, Schulen, auf Hinterbühnen und in Bibliotheken sitzen; Buchseiten, wegen der geplatzten Wasserrohre zum Trocknen über Stricke gespannt.

Schostakowitsch, der mit seiner 7. Sinphonie die Leningrader zum Durchhalten aufrief, sieht man bei Löscharbeiten auf dem Dach des Konservatoriums. Am 9. August 1942 wurde seine Sinphonie mit halb verhungerten Orchestermusikern aufgeführt. Schostakowitsch konnte wie viele andere Leningrader aus der Stadt evakuiert werden, als dazu noch die Möglichkeit bestand: über die »Eisstraße« des Ladoga-Sees.

Der massenhafte Hungertod vermittelt sich am eindrücklichsten in den fotografierten Notizzetteln der kleinen Tanja: Für jedes gestorbene Familienmitglied legte sie ein Kalenderblatt mit Namen und Sterbedatum an. Tanja selbst ist nach Beendung der Blockade gestorben — an den Folgen der der Unterernährung. Die Leningrader Grafikerin Jelena Oskarowna Marttile hat ihr eine Zeichnung gewidmet; neben dem Porträt werden eine Reihe weiterer Stiche der Künstlerin zum Thema Blockade präsentiert.

Natürlich sind auf den Fotos vor allem Frauen zu sehen, da die Männer ja an der Front dienten: Frauen versahen den Feuer- und Luftschutz, füllten die Sanitätsbrigaden, arbeiteten in Rüstungsbetrieben und gruppierten sich rund um das tragbare Öfchen, das zum Überlebenssymbol wurde: die »Burshuika«, ein Platz der Wärme auf den verschneiten Straßen und inmitten der Verwüstung. Was nicht zu sehen ist, sind die in allen Wohnungen und öffentlichen Einrichtungen angebrachten Lautsprecher, die ein dem Herzschlagtempo entsprechendes Metronomgeräusch übertrugen. Sobald sich der Rhythmus beschleunigte, suchte man schleunigst einen Luftschutzraum auf: Dann drohte ein Luftangriff oder Artilleriebeschuß der Deutschen. Michaela Ott

Die Ausstellung ist noch bis zum 21. Juli, Di.-So. von 11-18 Uhr in der Galerie im Saalbau Neukölln, Karl-Marx-Straße 141, zu sehen. Ergänzt wird sie durch eine Reihe von Begleitveranstaltungen.

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