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„Voice of America“ im Stimmbruch

■ Ehemalige US-Propagandasender suchen in Osteuropa nach neuer Identität

München (AP) — Die amerikanischen Regierungssender Radio Free Europe und Radio Liberty, in deren Programme früher die Sowjetunion und osteuropäische Länder mit Störsendern dazwischenfunkten, scheinen heute in den ehemaligen Blockstaaten wie einheimische Radiostationen akzeptiert zu werden. Sie erreichen dort nach eigenen Angaben wöchentlich rund 60 Millionen Hörer. Radio Freies Europa und Radio Liberty bekommen jetzt sogar Interviews von sowjetischen Politikern, und sie dürfen Sendeanlagen in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn benutzen. Für die Radiostationen könnte der politische Wandel dennoch zur Existenzbedrohung werden. Im April berief der amerikanische Präsident George Bush eine Kommission, von der eine Empfehlung zu der Frage erwartet wird, was mit den Regierungssendern geschehen soll. Dazu gehören außer den beiden Münchner Stationen auch die „Stimme Amerikas“ sowie die Sender Worldnet Television Service und Radio-TV Marti, der nach Kuba sendet.

Auch wenn für den Sendebetrieb, der jährlich rund 450 Millionen Dollar kostet, eine gewisse Konsolidierung erwartet wird, sieht der Chefredakteur von Radio Liberty, Wladimir Matusewitsch, skeptisch in die Zukunft: „In den Vereinigten Staaten fragt man sich, ob so viele Stimmen Amerikas gebraucht werden.“ Die Hörfunkstation, die wöchentlich 499 Stunden Programme in Russisch und elf anderen Sprachen in die Sowjetunion sendet, wird nach seiner Ansicht noch mehrere Jahrzehnte gebraucht, während in der sowjetischen Politik und Wirtschaft Unruhe herrschen werde.

Radio Freies Europa sendet wöchentlich rund 630 Stunden in die jeweiligen Landessprachen nach Polen, in die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die drei baltischen Republiken der Sowjetunion. Die beiden Münchner Sender haben eine andere Aufgabe als die „Stimme Amerikas“, die politische und kulturelle Programme über die Vereinigten Staaten ausstrahlt. Sie berichten über die Länder, in die sie senden, und sehen sich in einer Ersatzfunktion, solange dort kein objektiver Journalismus praktiziert werde.

In mancher Hinsicht haben Radio Free Europe und Radio Liberty ihre Programme der Voice of America angeglichen. Sie klären über Marktwirtschaft und Wahlverfahren auf oder machen die Problematik multikultureller Gesellschaften zum Thema. „Es gibt eine begrenzte Annäherung auf diesem Gebiet“, bestätigt Gene Pell, der Präsident von Radio Liberty, jedoch bezögen sich die Programme der „Stimme Amerikas“ auf amerikanische Beispiele, während die der beiden Münchner Stationen die europäischen Demokratien zum Vorbild nähmen. „Wir haben im Gegensatz zur Voice of America viel zur Überbrückung West- und Osteuropas getan“, betont Pell, der früher selbst die „Stimme Amerikas“ leitete.

Der Präsident sieht es als Aufgabe von Radio Free Europe und Radio Liberty an, sich selbst irgendwann überflüssig zu machen, aber Gespräche mit führenden osteuropäischen Politikern deuteten darauf hin, daß selbst in den freien Gesellschaften Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns für die amerikanischen Sender weiterhin ein Bedarf gesehen wird. Da in jüngster Zeit scharf gegen sowjetische Medien vorgegangen worden sei, werde die Berichterstattung von Radio Liberty über die Sowjetunion noch lange nicht zu ersetzen sein, sagt Pell.

Sollte Radio Free Europe dennoch den Betrieb einstellen, müßte dies nach seiner Ansicht in Zusammenarbeit mit den betroffenen Ländern geschehen. „Wenn diese Zeit gekommen ist, müssen Alternativen für die Sender untersucht werden.“ In München denkt man nach Pells Worten bereits daran, Teile zu privatisieren oder den Betrieb in die einzelnen Länder zu verlegen und ohne Regierungsauftrag fortzuführen.“

Zur Zeit können sich die beiden Hörfunksender in Lobesbezeugungen früherer Dissidenten sonnen, die ihre Länder regieren. Lennart Meri, estländischer Außenminister, schlug sie für den Friedensnobelpreis vor. Der tschechoslowakische Präsident Vaclav Havel, früher ein leidenschaftlicher Hörer des amerikanischen Programms, schrieb kürzlich an die Münchner Stationen: „Wir brauchen Ihre Beobachtung und Ihren Professionalismus.“

Nach Pells Angaben erreicht Radio Free Europe 45 Prozent der Hörerschaft in Rumänien und ist Radio Liberty das führende westliche Radio in der Sowjetunion vor der „Voice of America“ und dem britischen Sender BBC. Die Sender wurden 1949 beziehungsweise 1951 gegründet und vom amerikanischen CIA finanziert. Ihr Ruf wurde beschädigt, als sie den ungarischen Aufstand von 1956 unterstützten, was heute gegen die Rundfunkregeln verstoßen würde. In den frühen 70er Jahren gab es grundlegende Änderungen, zu denen die Einstellung der Finanzierung durch den CIA gehörte. 1976 schlossen sich die beiden Regierungssender zusammen. Sie haben gegenwärtig 1.750 Mitarbeiter, darunter viele Exilanten aus osteuropäischen und sowjetischen Ländern.

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