DEBATTE: Erzwungene Familienbande?
■ Der Westen und die Einheit Jugoslawiens — eine historische Lektion
Für ein geeintes Jugoslawien haben sich seit dem Bruch Titos mit Stalin die westlichen Mächte immer wieder stark gemacht. Damals — 1948/49 — war den politischen Führungen der USA und Großbritanniens gedämmert, daß Jugoslawien zu einer Trumpfkarte im großen Spiel des Kalten Krieges werden könnte. Es blieb zwar kommunistisch, bot aber erfolgreich dem großen Diktator die Stirn. Aus der kategorischen Weigerung Titos, Jugoslawien zum Satellitenstaat der Sowjetunion absinken zu lassen, zogen die Westmächte zweierlei Nutzen: Zum einen stellte der durch die jugoslawische Haltung ausgelöste ideologische Streit im kommunistischen Lager das stalinistische Herrschaftssystem zum ersten Mal offen in Frage; wichtiger aber noch war für den Westen die militärstrategische Bedeutung des Schismas.
Indem Tito — selbst langjähriger Stalinist — Stalins Armee den Zugriff auf das Mittelmeer verwehrte, schob er der weiteren sowjetischen Expansion einen Riegel vor. So ist es kein Wunder, wenn nach anfänglichem Zögern der jugoslawische Diktator zum hofierten Gesprächspartner der westlichen Politiker wurde. Jugoslawien erhielt westliche Kredite und Wirtschaftshilfe, die den Verlust durch den sowjetischen Wirtschaftsboykott mehr als wettmachten.
Jugoslawiens gefeierter „dritter Weg“
Tito gelang es in der Folgezeit, sich als kommunistischer Führer mit menschlichem Antlitz zu profilieren: Die Theorie der Arbeiterselbstverwaltung überzeugte auch viele demokratische Sozialisten des Westens von der Redlichkeit der jugoslawischen Partei. Da störte es nicht weiter, daß diese Selbstverwaltung in Wirklichkeit durch die staatliche Bürokratie und den Parteiapparat geknebelt wurde. Und das positive Bild der Diktatur im westlichen Ausland wurde auch nicht dadurch getrübt, daß Tausende von Menschen als „sowjetische Agenten“, „Faschisten“ oder „Separatisten“ in den Gefängnissen des Regimes verschwanden: Mit raffinierten Foltermethoden wurden auf der Gefangeneninsel Goli otok „Oppositionelle“ gequält, ganze Volksgruppen wurden kollektiv bestraft — beispielsweise ist fast unbekannt geblieben, daß nach 1945 Zehntausende von Schwaben aus der Wojwodina ermordet wurden.
Das kommunistische Jugoslawien erwarb den Ruf eines eigenständigen „sozialistischen Modells“. Indem Tito seine außenpolitische Handlungsfreiheit nutzte und sich zu einem der Führer der Blockfreienbewegung aufschwang, gelang es ihm, jeglichen Gedanken an die Zerbrechlichkeit seines Vielvölkerstaates zu unterbinden. So wurde die Kampagne der frühen 70er Jahre gegen den „bürgerlichen Nationalismus und Liberalismus“ im Westen nicht so gesehen, wie sie wirklich war — ein Zeichen der fortbestehenden tiefen nationalen Gegensätze.
Alte Eliten als neue nationale Führer
Mit der Verfassung von 1974 versuchte Tito, den Beziehungen zwischen den Republiken auch über die Zeit seiner Herrschaft hinaus eine stabile Form zu geben. Aber die Föderalisierung und Dezentralisierung mißlangen, da das Herrschaftsmonopol der Partei nicht beseitigt wurde. Westliche Analytiker sahen die Kompliziertheit des neuen Staatsaufbaus, nicht aber diese strukturelle Schwäche. Nach Titos Tod lebten die lange unterdrückten nationalen Widersprüche wieder auf, und die über Jugoslawien hereinbrechende ökonomische Krise tat ein übriges, die nationalen Mythen zu potenzieren. Die jugoslawische Einheit wird heute von fast allen Seiten des Spektrums der vielen Völker Jugoslawiens nur noch als ein Zwangszusammenhang, der der eigenen Gruppe oder Nation von Schaden ist, gesehen. Wenn in Kroatien Tito heute heftig kritisiert wird, dann mit dem Hinweis, er habe der serbischen Dominanz im Einheitsstaat gedient, vor allem sichtbar nach 1971, als die nationaldemokratische Bewegung in Zagreb zerschlagen wurde. Und wenn Serben das Denkmal des Staatsgründers vom Sockel stürzen, dann mit dem Argument, der „Kroate“ Tito habe mit der Autonomie des Kosovos und der Wojwodina Serbien in Teile zerstückelt und Millionen von Serben durch willkürliche Grenzziehungen vom Mutterland abgetrennt.
Die Slowenen wiederum werden nicht müde nachzuweisen, daß sie mit ihrer relativen wirtschaftlichen Stärke für den Erhalt der Bundesinstitutionen bluten mußten. Allein die Albaner ehren das Andenken Titos, stellte für sie die Verfassung von 1974 doch den einzigen Schritt in der jugoslawischen Geschichte hin zur Anerkennung ihrer eigenen Kultur und kollektiven Rechte dar.
Für viele Vertreter der nationalistischen Eliten, die in der Vergangenheit selbst Kommunisten waren, hat der Kommunismus abgewirtschaftet, weil er die Unterdrückung der eigenen Nation durch die „anderen“ möglich machte, jedoch erst an zweiter Stelle deshalb, weil er ein despotisches System war. Angesichts dieser Denkformen wird erklärlich, warum selbst in den angeblich demokratischen Republiken die alten Apparate weiter funktionieren. Nur in Slowenien wurde der Repressionsapparat angetastet, in den anderen Republiken wurde er unbesehen in den Dienst der nationalen Sache gestellt und sogar, wie in Kroatien immer sichtbarer, martialisch aufgerüstet. Die nationalen Führer umgeben sich zunehmend, ganz im Stile Titos, mit der Aura, „Führer“ ihres „Volkes“ zu sein. Der Kampf gegen die Einheit und die Rückbesinnung auf die eigene nationale Identität hat sich zunehmend als Hemmung für die Demokratisierung in den Republiken erwiesen. Oder umgekehrt, der nationale Dauerkonflikt stärkt die autoritären Züge der Politik in den Republiken.
Das Beharren des Westens auf der Einheit stärkt den Nationalismus
Bis vor kurzem ist die westliche Politik gegenüber Jugoslawien in den alten Bahnen verlaufen. Dabei haben sich die Rahmenbedingungen entscheidend verändert. Das krampfhafte Festhalten am jugoslawischen Bundesstaat ist der Bewußtseinsentwicklung in Jugoslawien gegenüber fremd und äußerlich geblieben. Niemand kann heute sagen, was der jugoslawische Bundesstaat überhaupt noch ist. Sicherlich steht hinter dieser westlichen Politik die berechtigte Befürchtung, ein Auseinanderbrechen Jugoslawiens würde zu unkalkulierbaren Kämpfen um die Grenzen zwischen den dann souveränen Staaten führen. Tatsächlich ist die im serbisch-kroatischen und serbisch- albanischen Konflikt angestaute Aggressivität höchst explosiv. Anstatt jedoch Druck im Interesse eines schon längst ausgehöhlten Einheitsstaates zu machen, wäre es besser, auf eine Schiedsrichterrolle zu zielen und nach Lösungen zu suchen, die sowohl der Sehnsucht nach der Symbolik eigener Souveränität wie auch der Demokratisierung in den Teilrepubliken entgegenkäme. Erst dann könnte über neuzugestaltende Bundesinstitutionen geredet werden.
Die Präsidenten Bosniens und Mazedoniens haben in den letzten Wochen Ideen in diese Richtung entwickelt. Zwischen Kroatien, Bosnien und Serbien sind Grenzverhandlungen in Gang gekommen. Der Druck aus Brüssel — nur wenn die Jugoslawen selbst aktiv werden, um die Konflikte zu lösen, ist an weitere Wirtschaftshilfen zu denken — hat sicherlich dabei geholfen. Schon bewegen sich viele ökonomisch und politisch noch vernünftig denkende Politiker in Jugoslawien auf Kompromisse zu, weil sie erkannt haben, daß der Weg nach Europa nur über friedliche Konfliktregelungsmechanismen unter gemeinsamen Institutionen zu erreichen ist. Wenn sich die Politik der EG und der USA jedoch darauf reduzierte, das Interesse an stabiler Schuldentilgung lediglich mit hehren Bekentnissen zur „demokratischen Einheit“ zu verkleiden, würde der Brandherd nicht gelöscht, sondern das Feuer weiter angefacht. Eine solche Politik spielt den Nationalisten in den Repubiken in die Hände, statt sie zu isolieren. Der Bundesstaat Jugoslawien muß neu geordnet werden, und zwar mit vielen Spielräumen für die Republiken. Völlig aufgelöst werden muß er nicht. Die „internationale Lage“ jedenfalls steht heute einer Modernisierung der staatlichen und zwischenstaatlichen Gegebenheiten auf dem Balkan nicht mehr im Wege, Der Eiserne Vorhang ist gefallen und Stalin bekanntlich seit 1953 tot. Erich Rathfelder,
z.Zt. Ljubljana
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen