: ... dann käme halb Litauen ins Gefängnis
■ Die Journalistin Liuba Tschernaja spricht über den Umgang mit der KGB-Vergangenheit und die Zukunft der russischen Minderheit in Litauen
Liuba Tschernaja wurde in Moskau geboren, lebt aber seit zwanzig Jahren in Vilnius, wo sie vor dem Beginn der Unabhängigkeitsbewegung als Redakteurin in einem Verlag arbeitete. Ab 1989 gab sie die Zeitung 'Soglasje‘ heraus — damals die russischsprachige Ausgabe der Zeitung der litauischen Unabhängigkeitsbewegung „Sajudis“. Über Schleichwege wurden die Ausgaben sogar in Moskau vertrieben. Moskautreuen Angehörigen der russischen Minderheit in Litauen war es ein Dorn im Auge. Liuba Tschernaja erhielt Drohanrufe und wurde als „Verräterin am eigenen Volk“ beschimpft. Nach dem Sturm sowjetischer Truppen auf das Fernseh- und Radiozentrum in Vilnius am 13. Januar dieses Jahres übernahm sie die improvisierten Radiosendungen für die russischsprachige Bevölkerung Litauens, denn „irgendjemand mußte ihnen ja erklären, was wirklich los ist“. Heute hat Tschernaja eine eigene Kommentarsendung im litauischen Radio und leitet beim Fernsehen ein wöchentliches russischsprachiges Programm. 'Soglasje‘, deren Chefredakteurin sie nach wie vor ist, ist seit dem Wahlsieg von „Sajudis“ eine unabhängige Zeitung mit einer Auflage von rund 40.000 Exemplaren.
taz: Der Putsch in Moskau ist gescheitert, die baltischen Staaten sind in einem Tempo, das sie selbst nicht erwartet hatten, nun auch international als souveräne Nationen anerkannt — jetzt beginnt die Phase mühsamer alltäglicher politischer Kleinarbeit. Folgt der Euphorie nun die Ernüchterung?
Liuba Tschernaja: Die Phase der Euphorie haben wir schon 1988 durchlebt. Danach mußten wir mehrere harte Prüfungen durchlaufen, die einigen Menschen das Leben gekosten haben. Wir hatten ja vor dem Putsch schon unsere Erfahrungen mit einer militärischen Intervention gemacht. Man kann sagen, daß im Moment eine kurze Phase der Entspannung und Erleichterung herrscht, ungläubiges Staunen, daß die Sowjetunion so schnell zusammengebrochen ist.
Haben Sie persönlich die Ereignisse der letzten Wochen bereits verarbeitet?
Mit dem Kopf kann ich analysieren und nachvollziehen, was geschehen ist, aber verinnerlicht habe ich das noch nicht. Mir passiert es immer noch, daß ich drauf und dran bin, eine Genehmigung zu beantragen, weil ich nach Moskau fahren will — und dann fällt mir ein, daß das jetzt nicht mehr nötig ist. Andererseits beginne ich erst jetzt zu realisieren, daß meine Schwester, die in Moskau wohnt, in einem anderen Staat lebt.
Befürchten Sie, daß Litauen damit überfordert ist, jetzt in einem unglaublichen Tempo staatliche Strukturen und eine Wirtschaftsreform organisieren zu müssen ?
Genügend vorbereitet sind wir keinesfalls — wobei unsere Vorbereitungen auf die staatliche Unabhängigkeit sicher noch weiter gediehen waren, als in Estland oder Lettland. Wir hatten immerhin schon Gesetze verabschiedet, die jetzt in Kraft treten können; wir hatten bereits den Vertrag mit Rußland unterzeichnet, in dem die russische Föderation uns anerkennt. Aber so schlimm es klingt: Wir haben kein ernst zu nehmendes Reformprogramm für unsere Wirtschaft.
Von der wirtschaftlichen Entwicklung wird entscheidend das innenpolitische Klima der nächsten Jahre mitbestimmt — und das ist nicht zuletzt vom Verhälntis der litauischen Bevölkerungsmehrheit zur russischen und polnischen Minderheit geprägt. Steht da ein neuer Nationalitätenkonflikt bevor?
Zuerst einmal möchte ich bestreiten, daß das von der Wurzel her ein Nationalitätenkonflikt ist. Denn was in den letzten Jahren von russischer Seite oft als Problem der Minderheit gegen die litauische Mehrheit bezeichnet worden ist oder als ethnischer Konflikt, ist für mich in erster Linie eine politische Auseinandersetzung über die Frage der litauischen Unabhängigkeit gewesen. Die meisten Russen, die gegen die Unabhängigkeit Litauens waren, waren ja für die sowjetische Zentralmacht. Jetzt ist bei diesen Menschen natürlich eine enorme Verunsicherung entstanden. Hinzu kommt, daß die meisten Russen in Litauen wie in Reservaten leben — viele in militärischen Einrichtungen. Viele sprechen kein litauisch, halten das auch gar nicht für nötig, weil sie ein durchaus imperiales Selbstverständnis haben. Sie halten sich für das größte Volk überhaupt. Jetzt fühlen sich viele von ihnen in Litauen als Menschen zweiter Klasse behandelt. Nur würden die sich am ehesten damit einen Gefallen tun, sich auch wie Menschen erster Klasse zu verhalten, sich nicht abzukapseln, und die durch die Unabhängigkeit entstandenen Aufgaben und Probleme auch als die ihren zu begreifen.
Es werden zunehmend Stimmen laut, die vor einem neuen Nationalismus in Rußland und einem neuen imperialen Denken warnen. Boris Jelzin wird bereits als der „neue Zar“ tituliert. Befürchten Sie, daß sich dies auf die litauisch-russischen Beziehungen auswirkt?
Was die Person Jelzins betrifft, so hat er sich in den letzten Wochen als durch und duch moralischer Politiker erwiesen — Gorbatschow ist im Gegensatz dazu ein intriganter Politiker. Ich habe Hoffnung, daß Jelzin ein Demokrat bleiben wird. Ich weiß andererseits, daß es in Rußland Politiker gibt, die Litauen bereits wieder als eine Art russisches Protektorat sehen. Wenn die Inflation und die Arbeitslosigkeit steigen und es immer mehr Unzufriedene gibt, dann kann in Rußland eine Situation entstehen, die mit der in Deutschland 1933 zu vergleichen ist. Und es gibt Politiker, die das Zeug zu einem Hitler haben.
Nationalistische Tendenzen gibt es auch in Litauen. Sind die für Sie kein Grund zur Beunruhigung?
Sicher, es gibt sie. Aber ich halte das für eine zeitlich begrenzte Gegenreaktion auf die jahrzehntelange Unterdückung jedes Nationalgefühls durch die Zentralmacht. Das wird sich mit zunehmender Öffnung des Landes wieder legen. Der sowjetischen Propaganda, die ja wirklich alles durchdrungen hat, hatte man nur eines entgegenzusetzen, und das war der Haß auf die Zentralmacht, der nun oft mit einem Haß auf alles Russische vermischt wird. Allerdings haben die Ereignisse während des Putsches in Moskau viel dazu beigetragen, daß wieder genauer differenziert wird zwischen Russischem und Sowjetischem.
Äußerst umstritten ist momentan die Frage des Umgangs mit den Repräsentanten des alten Systems, vor allem des Repressionsapparates. Eine Parlamentskommission ist seit knapp zwei Wochen damit befaßt, den litauischen KGB aufzulösen, eine öffentliche Diskussion darüber wird aber nicht geführt...
Das Fatale ist, daß die Debatte über dieses Thema damit begann, daß die litauische Freiheitsliga öffentlich forderte, alle Kommunisten aus ihren Arbeitsplätzen zu werfen. Dadurch war dieser sehr komplizierte Prozeß sofort durch eine drohende Hexenjagd überschattet. Im Obersten Rat arbeiten heute noch viele alte Parteifunktionäre, von denen wir längst wissen, daß sie früher mit dem KGB zusammengearbeitet haben. Anders hätten sie ihre Posten gar nicht bekommen. Diese Leute sabotieren viele Entscheidungen. Ich fordere nicht, daß diese Leute strafrechtlich belangt werden. Und meines Wissens ist es rechtlich auch nicht möglich, jemanden wegen Denunzation zu einer Haftstrafe zu verurteilen. Wenn wir damit anfangen würden, käme ohnehin halb Litauen ins Gefängnis. Ich will nicht, daß wir über diese Leute zu Gericht sitzen. Aber ich will auch nicht, daß diese Leute weiterhin wichtige Posten zum Beispiel in Regierunsinstitionen bekleiden. Und ich halte es für überlegenswert, in überprüften Fällen die Namen derjenigen zu veröffentlichen, die mit ihren Denunziationen andere ins Lager gebracht haben. Man kann darüber nicht einfach hinweggehen und das verzeihen.
Was ist im Nachhinein ihre schmerzhafteste Erfahrung?
Das Schlimmste war, daß mein Beruf, der Journalismus, im alten System gleich nach der Prostitution kam. Ich hatte auf der Arbeit anders zu denken und zu reden als zu Hause. Ich habe mich zwar bemüht, nie in Situationen zu kommen, in denen ich die Sowjetunion hochleben lassen mußte. Aber man hat sich auf die Regeln eingelassen und nach ihnen gespielt. Dieser Zwiespalt hätte mich fast in eine Schizophrenie getrieben. Diese Schizophrenie war eine zentrale Eigenschaft der Menschen in der Sowjetunion. Man lernte, mit dieser offenen Lüge zu leben.
Verbittert es Sie manchmal, sich so viele Jahre im Kampf mit dieser Schizophrenie verbracht zu haben?
Sagen wir einmal so: es macht mich traurig. Ich bin jetzt über vierzig. Was glauben Sie, was ich drum geben würde, jetzt zwanzig zu sein. Andererseits geht es mir besser als meiner Mutter, die ihr ganzes Leben in diesem System zugebracht hat. Sie wurde 1917 geboren.
Leninstatuen werden abgerissen, Bücher von Lenin oder Marx auf den Müll geworfen oder als Zeichen der Abscheu an Baumstämme genagelt. Gibt es irgendetwas, was ihnen an der Theorie und Philosophie des Marxismus-Leninismus bewahrenswert erscheint?
Nun, diese Reaktionen sind subjektiv sehr verständlich. Uns ist das jahrzehntelang in den Hals gestopft worden, daß man jetzt fast kotzen möchte, wenn man diese Bestandteile des alten Systems auch nur zu Gesicht bekommt. Es werden Jahre vergehen, bis man sich wieder souverän mit dem Marxismus auseinandersetzen kann.
So brutal diese Ideologie auch aufgezwungen worden sein mag, hinterläßt ihre „Austreibung“ nicht ein Vakuum?
Was Litauen betrifft, so glaube ich das nicht — zumindest nicht auf intellektueller Ebene. Hier wurde bereits in den Jahren vor der Perestroika Philosphiegeschichte unterrichtet und diskutiert — auch die moderne Philosophie. Unser Vizepremier ist zum Beispiel Spezialist für moderne westliche Philosophie. Es gab auch originäre litauische Philosophenschulen. Der Druck im akademischen Bereich war hier nie so groß wie in Moskau. Viele Philosophen haben in ihren Veröffentlichungen ein Lenin-Zitat voran und ein zweites nachgestellt — und der Inhalt war mit der Theorie des Marxismus-Leninismus oft überhaupt nicht zu vereinbaren. Bei den Intelektuellen wird es ein solches Vakuum nicht geben. Die einfachen Menschen haben sich natürlich nie mit der Philosophie beschäftigt, sondern mit der Frage, ob es in den Geschäften irgendetwas zu kaufen gibt. Sie brauchen einen geregelten Lohn, Fleisch in den Läden, und erotische Filme im Fernsehen. Dann sind sie zufrieden.
Das letzte wird wohl am ehesten vorhanden sein. Womit wir bei der Rolle der Frauen wären. Während des Unabhängigkeitskampfes sind sie kaum an prominenter Stelle aufgetaucht, jetzt bei der Organisierung des litauischen Staates scheinen sie völlig von der Bildfläche verschwunden. Ein Abgeordneter des Parlaments hat dazu lakonisch festgestellt, mit der politischen Präsenz der Frauen im Postkommunismus sei es nicht zum besten bestellt. Eine galante Untertreibung...
Frauen sind in Litauen sehr viel besser gestellt als in Rußland — aber nichtsdestotrotz sehr viel schlechter als in westlichen Ländern. Feministische Ideen und Theorien sind hier völlig fremd. Die werden erst jetzt langsam durch die Exillitauerinnen, die zurückkehren, hereingebracht. Allerdings glaube ich nicht, daß hier ein Feminismus amerikanischer Prägung Fuß fassen wird. Das hat unter anderem mit dem Umstand zu tun, daß hier fast alle Frauen berufstätig sind und ihre Arbeit auch genauso bezahlt wird wie die der Männer...
Aber bei den anstehenden Schließungen unrentabler Betriebe werden als erste die Frauen entlassen.
Das ist zu befürchten. Momentan liegt die Diskriminierung darin, daß Frauen kaum eine Chance haben, in Führungsposten aufzusteigen.
Sie selbst sind eine absolute Ausnahme als Herausgeberin einer Zeitung, als Radiokommentatorin und Fernsehregisseurin. Wie sieht denn Ihr Arbeitstag aus?
Der beginnt morgens um neun und endet um Mitternacht. Wobei viel zuviel Zeit dafür verwandt wird, Sachen zu organisieren. An manchen Tagen bin ich nicht damit beschäftigt, journalistisch zu arbeiten, sondern damit Papier und Druckerschwärze herbeizuschaffen. Oder in der Druckerei, deren Leiter ein alter Parteifunktionär ist, darum zu betteln, daß meine Zeitung gedruckt wird. Ich wünsche mir für die nächste Zeit nichts mehr, als wieder mehr journalistisch und schöpferisch tätig zu sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen