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„Wir werden nicht über Nacht Brüder, weil die Regierung das beschlossen hat“

Uruguays Unternehmer halten die lateinamerikanische Freihandelszone Mercosur für einen Fehler  ■ Aus Montevideo Gaby Weber

Der Geschäftsführer von Hoechst Uruguay zuckt mit keiner Wimper: „Nein“, sagt der Mittvierziger, „im Moment denken wir nicht an Schließung“, und setzt nach: „im Moment.“ Doch die Entscheidung, ob die Fabrikation in Montevideo fortgeführt wird, trifft nicht Christoph Haubold, sondern die Zentrale am Main. Und die kann rechnen.

Während früher der Vertrieb davon abhängig gemacht wurde, daß auch am Ort produziert wurde, das heißt, daß Arbeitsplätze geschaffen wurden, sind seit Anfang des Jahres die Zollbarrieren merklich gesunken. Und wenn der vor einem halben Jahr beschlossene Mercosur, die lateinamerikanische Freihandelszone, Wirklichkeit wird, ist es spätestens am 31. Dezember 1994 mit Schutzzöllen endgültig vorbei. Dann wird es sich kaum noch lohnen, den kleinen Markt der drei Millionen Uruguayer aus der eigenen Produktionsstätte zu beliefern. Dann wird man lieber in den Nachbarländern die Maschinen länger laufen lassen.

Die ersten Pharmakonzerne haben bereits ihre Zelte in Montevideo abgebrochen. Sandoz ließ bis vor kurzem seine Muntermacher im Hoechst-Laboratorium zusammenbrauen. Inzwischen sind die Importe aus Argentinien so billig geworden, daß das Schweizer Unternehmen auf die Hilfe der Deutschen verzichten kann. Schering mixt Pillen und Salben in Zukunft im Ausland. Eigentlich sei die Herstellung der Hoechst- Pharmazeutika in Montevideo „unökonomisch“, gibt Hoechst-Betriebsleiter Haubold zu, da die Firma in Argentinien und Brasilien über ausreichende Kapazitäten verfüge. Aber er bemühe sich um Ersatz. Seinem Pökelsalz stehe möglicherweise eine große Zukunft bevor. Und schließlich schreibe der Betrieb schwarze Zahlen.

Am 26. März 1991 war in der paraguayischen Hauptstadt Asuncion feierlich der Vertrag über den Mercosur unterzeichnet worden. Doch obwohl er erst ein halbes Jahr alt ist, ist er in eine kritische Phase getreten. Der offene Unmut kommt vor allem aus Unternehmerkreisen, die eine klare Vorstellung davon haben, wer die Gewinner und wer die Verlierer sein werden. Vor allem in den kleinen Mitgliedsstaaten — Uruguay und Paraguay — fürchtet man, von den beiden Giganten — Brasilien und Argentinien — über den Tisch gezogen zu werden. Mehrere handfeste Indizien sprechen für diese Annahme:

Ohne ihre kleinen Partner zu konsultieren, haben die argentinische und brasilianische Regierung gerade ein bilaterales Abkommen besiegelt und mehrere Megavorhaben von kontinentalem Interesse beschlossen: den Bau einer Gasleitung von Feuerland bis Sao Paolo, einen gemeinsamen Kommunikationssatelliten und eine vereinte Postdirektion. Außerdem wollen sie sofort die Zölle um 47 Prozent senken. Dies betrifft aber nur die eigenen Produkte, nicht die der restlichen Mercosur-Partner. „Wir werden damit im Ex- und Import extrem benachteiligt, so hatten wir uns die Realität vor einem halben Jahr nicht vorgestellt“, heißt es in der paraguayischen Handelskammer.

Laut Mercosur-Vertrag sollen Einkäufe von subventionierten Waren verboten sein. Doch kaum zwei Monate nach Unterzeichnung hatte Brasilien zu einem Dumpingpreis 700.000 Tonnen Weizen aus den USA erworben — zum Unwillen der Argentinier, die zwar billiger produzieren, aber nicht subventionieren und daher auf ihrem Getreide sitzen bleiben. Eigentlich wäre in diesem Fall ein „Kompensations-Bußgeld“ fällig gewesen. Doch Buenos Aires und Brasilia einigten sich hinter verschlossenen Türen auf einen Kompromiß: Die Argentinier dürfen im Gegenzug ungestraft 1.500 Tonnen Milchpulver aus EG-Beständen kaufen. Dieses Vorgehen habe zwar mit dem Geist der Freihandelszone nichts gemein, räumt der Sprecher des argentinischen Unternehmerverbandes, Rafael Galarce, ein, man dürfe es aber nicht überbewerten: „Solche Mißgeschicke werden weiter passieren. Wir werden über Nacht nicht plötzlich Brüder, nur weil die Politiker dies beschlossen haben.“

Kapital ist rar. Trotz aller Versprechungen werden kaum Kredite zur Verfügung gestellt, mit denen die veralteteten Fabriken modernisiert und wirklich zum kontinentalen Wettbewerb gerüstet werden könnten. „Die Politiker haben den Mercosur aus dem Ärmel gezogen, ohne die Unternehmer um ihre Meinung zu fragen“, schimpft Milton Reyes, Generalsekretär der uruguayischen Union der Exporteure, „sie führen sich wie Könige auf, die ihre Kinder verheiraten, ohne sie vorher zu Rate zu ziehen.“

In dieser Mesalliance fehlen die zentralen Übereinkünfte, für die man auf anderen Kontinenten mehrere Jahrzehnte benötigt hatte: gemeinsame Normvorschriften und eine kollektive Strategie, wie mit Investitionen, Migration und Währungspolitik zu verfahren sei. Wie hoch der künftige gemeinsame Schutzzoll gegenüber den Produkten von Nicht- Mitgliedern sein soll, steht noch nicht fest. Brasilien legt Wert auf hohe Zölle, um die eigene Industrie vor der Konkurrenz zu schützen. Doch das läuft den Interessen der übrigen Mitglieder frontal entgegen, die gerne weiterhin auf dem Weltmarkt die billigsten und hochwertigsten Produkte einkaufen wollen.

Die Auslandsschulden will jedes Land weiter einzeln verhandeln. Damit geraten Uruguay und Paraguay ihren Konkurrenten gegenüber noch einmal ins Hintertreffen, meint Reyes. Denn Brasilien bedient den Schuldendienst nicht, Argentinien zahlt einen symbolischen Betrag. Die Regierungen in Montevideo und Asuncion hingegen kommen ihren Verpflichtungen pünktlich nach.

Die uruguayischen Geschäftsleute fühlen sich von der konservativen Regierung des Präsidenten Luis Albert Lacalle verraten. Er vertrete sie nicht angemessen auf internationalem Parkett und strafe sie im eigenen Land mit hohen Sozialabgaben. Um die Bedingungen des Internationalen Währungsfonds zu erfüllen und das Haushaltsdefizit zu senken, wurden in den letzten Monaten die Staatsausgaben massiv gesenkt, Steuern erhöht und die Arbeitgeberbeiträge angezogen. „Wo keine Rentabilität lockt, können wir auch nicht investieren“, sagt Reyes. Mangelnde Anreize für profitträchtige Geschäfte seien dafür ausschlaggebend, daß die Produktion rückläufig sei. Die Deutsch-Südamerikanische Bank, eine Tochter der Dresdner, hatte in Montevideo eine Kreditlinie für Mercosur-Investoren eröffnet, sie aber inzwischen wieder geschlossen. Nicht ein einziger Interessent hatte sich eingefunden.

„Die Regierung blickt nur auf monetäre Aspekte, daß das Haushaltsdefizit gering bleibt, denn die Weltbank und der Währungsfonds setzen sie unter Druck“, hat Carlos Langwagen beobachtet, langjähriges Vorstandsmitglied der Deutschen Bank in Montevideo. „Der IWF interessiert sich ausschließlich für die Makroökonomie. Sie sagen: Wir setzen den Rahmen, dann läuft der Rest schon. Aber so läuft das hier nicht.“ Wer investieren will, geht gleich nach Brasilien.

Wird Hoechst also in Montevideo weitermachen? Alles spricht dagegen. Vielleicht werde die Pharma- Produktion eingestellt, gibt Betriebsleiter Haubold der taz gegenüber zu, eine Verkaufsniederlassung würde man auf jeden Fall weiterführen.

In diesem Fall müßte von den 90 Beschäftigten ein Drittel gehen. Bei den Hoechst-Arbeitern herrscht Verwirrung. Noch ist nichts offiziell, aber Panik um die Arbeitsplätze ist ausgebrochen. Doch niemand, nicht einmal die Gewerkschaftsführung, weiß, wie man sich gegen die Schließung wehren könnte.

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