: Der Programmheftautor als Held
Die 41. Berliner Festwochen und ihre musikalische Diplomatie ■ Von Frank Hilberg
Berlin: Metropole des Scheitels von West und Ost; Drehscheibe der Kulturen; Brücke zwischen den Welten. So tönen offizielle Verlautbarungen zur zukünftigen Funktion der Stadt. Da das Selbstverständnis der Bewohner und der kulturellen Institutionen wegen Umbau vorläufig im unklaren bleiben muß, entwerfen die Kulturmacher das Muster, nach dem die Rolle der Stadt gestrickt wird.
Auch die Berliner Festspiele GmbH hat sich mit dem 41. Jahrgang ihrer Festwochen angeschickt, Positionen zu entwerfen und einen Vorgeschmack künftigen Kulturlebens zu geben. Es geht um nichts Geringeres als um die „Revitalisierung Mitteleuropas“, um eine neue „kulturelle Topographie“, die auf den Gebieten des Theaters, der Literatur, des Films und vor allem der Musik erstellt werden soll. Die „kulturelle Wechselwirkung“ West-Ost bildet also das Gravitationszentrum der Veranstaltungen.
Dazu wurde mit „Kunst gegen den Krieg“ ein Thema gewählt, mit dem sich zugleich „historische Verantwortung“ gegenüber dem Krieg gegen die Sowjetunion übernehmen und die Möglichkeit künstlerischen Engagements überhaupt darstellen läßt. Ein ehrenwertes Unterfangen, das aber weniger an seinen guten Absichten, als an der investierten Arbeit zu beurteilen sein wird. Dem Thema gerecht zu werden, ist in den visuellen Künsten relativ leicht zu bewerkstelligen und wurde durch eine Ausstellung und ein enorm umfangreiches Filmprogramm auch eingelöst. In der Musik allerdings gehört diese Fragestellung zu den heiklen Angelegenheiten. Die Programmgestalter sind an ihr hoffnungslos gescheitert.
Wer die Möglichkeit von „Musik gegen Gewalt“ oder „Engagierter Musik“ postuliert, setzt bereits voraus, daß sich auf musikalischem Wege Aussagen treffen lassen. Ein Stück mit einer humanistischen oder politischen Botschaft zu versehen, wird zumeist durch Titel, Widmung, Texte, Kommentare, Anlaß der Aufführung oder, im besten Falle, durch ästhetische Mittel bewerkstelligt.
Alfred Schnittkes Sutartines ist den litauischen Opfern der blutigen Unruhen Anfang des Jahres im Baltikum gewidmet. Zunächst erklingt ein Cantus firmus litauischer Volkslieder, zart und zerbrechlich von drei einzelnen Streichern intoniert. Allmählich braut sich eine Wolke dissonanter Streicherklänge zusammen, die sich zunehmend verdichtet, anschwillt und schließlich in einem heftigen Schlagzeuggewitter entlädt — die Wolke verfliegt und zurück bleiben die alten litauischen Weisen. Durch seine plakativen Effekte gerät diese Leidensminiatur zum Betroffenheitskitsch, der mittels simpler Assoziationen wirkt. Hier werden die überaus konservativen Gleichsetzungen (Volkslied = Unschuld, enge Streichercluster = drohende Gefahr, heftige Schlagzeugwirbel = Brutalität) abgerufen, um durch Effekte große Gefühle zu evozieren. Das mag vom Komponisten ernst und tief gefühlt worden sein, der Ansatz aber ist höchst zweifelhaft. Gleichfalls eine Spur zu schlicht gerät die Aussage von Georg Katzer mit seiner Kantate Il re pastore (Der König als Hirte) für Bariton, Bläserquintett und Cembalo. Gemeint ist Friedrich II., jener musikalisch und philosophisch dilettierende, aber militärisch erfolgreiche Herrscher. Katzer collagiert widersprüchliche Texte aus dessen Werken — solche, die ihn als Humanisten zeigen und solche, die kaltblütig gewalttätige Mittel androhen — mit Soldatenliedern und Friedensgedichten. Die Kontrastierung der Texte ist wenig subtil und die musikalische Auslegung hebt diesen Eindruck nicht auf. Das Bläserquintett akzentuiert die gesprochenen oder gesungenen Texte in dienender Manier. Wenn die Instrumentalisten, quasi als Chor, deklamieren müssen, gerät das so staksig, daß man vor Mitleid fast vergißt, dem Sinn der Worte zu folgen. Voll der unfreiwilligen Komik ist allerdings, wenn dero Herren Kammermusici deftig rauhbeinige Soldatenlieder schmettern sollen: was ertönt, sind magere Stimmen wie von Konfirmanden. Zu Fall gerät das Werk durch Anwendung allzu bewährter Illustrationsrezepte: Ist vom Angriff auf ein Dorf die Rede, knattert's ta-ta-ta-ta-taa aus dem Cembalo, wird vom Truppenwerben gesprochen, schon wird auch die Militärtrommel gerührt. Etc. Wie wenig der puren Musik als Botschafter überhaupt vertraut wird, zeigte dann ein Konzertabend mit acht Uraufführungen von sämtlich Berliner Komponist(inn)en.
„Musik gegen Gewalt“ ist in diesem Jahrhundert einige geschrieben worden, an Anlässen hat es ja nicht gemangelt, und manches davon gehört bereits zum festen Bestand der Musikgeschichte. Manches wäre der Wiederaufführung wert gewesen. Umso erstaunlicher ist, daß die Veranstalter sich genötigt sahen, so diffus reflektierende Komponisten wie Dmitri Schostakowitsch, Sofia Gubaidulina, Arvo Pärt, ja selbst einen Opportunisten wie Sergej Prokofjew in den Mittelpunkt zu stellen. Um solche Entscheidungen hart am Rand der Plausibilität begründen zu können, bedarf es schon einer virtuosen Rhetorik und die Festspiele GmbH hatte das große Glück, einen der raren Spezialisten auf diesem Gebiet zu finden: der Programmheftautor Habakuk Traber war der eigentliche Höhepunkt der diesjährigen Festwochen.
Er schafft es mit einem rhetorischen Dreisprung, aufgrund von klaren und sachlichen Argumenten, den religiösen Hymniker Arvo Pärt und die humanistische Schwärmerin Sofia Gubaidulina zu Quasi-Widerstandskämpfern aufzubauen („Stimme des ruhigen Ungehorsams“). Das Meisterstück, der rhetorische Salto mortale, gelingt ihm allerdings bei Prokofjews Symphonie Nr. 5. Diese 1944 geschriebene klassizistische (also nicht einmal neo-klassizistische) Stilübung — fernab von Elend und Krieg, in einem „Refugium der Kreativität“ komponiert —, dieses Musterbeispiel stalinistischen Kunstverständnisses als „Musik gegen den Krieg“? „Westliche Kulturkritik müßte der Fünften affirmativen Charakter bescheinigen. Sie hat ihn.“ Wie Traber von diesem Eingeständnis zur Apostrophierung des Stücks als „ein Werk der Ermutigung, ein Werk der Hoffnung“ gelangt, gehört zum Lesenswertesten der Programmheftliteratur dieser Saison.
Wie werden künstlerische Entscheidungen für die Festwochen getroffen? Es scheint eine Leitlinie zu geben: das Abonnementsprinzip. Was gefällt den Abonnementkunden? Die Antwort führt zu den Programmen, die so originell sind, wie das CD-Sortiment bei Karstadt. Wie kann man modern und anspruchsvoll wirken, ohne irgendjemanden zu verprellen? Durch Harmlosigkeit, gepaart mit allgemeinem Einverständnis.
Ein Abonnement bekommen auch die Künstler: wer sich einmal bewährt hat, wird wieder dabei sein, immer wieder. Daher läßt sich eine Prognose wagen. Nächstes Jahr werden wieder zu hören sein: das Chamber Orchestra of Europe, Gidon Kremer, Simon Rattle, die diversen Berliner Orchester. Die Auftragswerke werden wieder erledigt von: Isang Yun, Dieter Schnebel, Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker, Georg Katzer. Und natürlich wieder dabei: Schnittke, Gubaidulina, Pärt. Dann aber nicht mehr dabei: der Rezensent.
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