: Geisterbahn und Geistesblitze
Leander Haußmann eröffnet mit der Uraufführung von Botho Strauß' jüngstem Stück den „Steirischen Herbst“ ■ Von Wolfgang Reiter
Unter der neuen Intendanz und dem gleich für das gesamte Jahrzehnt ausgerufenen Motto „Nomadologie der neunziger Jahre“ versucht das einst renommierte Grazer Avantgardefestival, sich wieder ins Zentrum des europäischen Kunstinteresses zu spielen. In seinem vierundzwanzigsten Jahr kommt der „Steirische Herbst“, der sich in seiner Theaterleiste programmatisch immer als Gegengewicht zu den Salzburger Festspielen und den Wiener Festwochen verstanden hatte (auf der Bühne aber meist ein Papiergewicht blieb), endlich zu seinem Großereignis: Botho Strauß steuerte sein jüngstes Stück, Angelas Kleider, als Eröffnungspremiere bei.
Zur lokalen Sensation gesellt sich eine überregionale: Nicht die Platzhirschen der Straußschen Theaterwelt, die Bondys, Steins und Dorns, kommen in Graz zum Uraufführungszug, sondern Jungstar Leander Haußmann, der erst im mecklenburgischen Parchim, dann in Weimar arbeitete und zukünftig in Berlin.
Leander Haußmann vermag sich überraschend gut in die exaltierte Welt des bewährten Strauß-Personals zu versetzen, das zu Beginn des Stückes noch einmal auftritt, ehe die Tür zu den künstlich belebten Leichen im Keller (dem „Nachthaus“) aufgestoßen wird, die der Straußschen Menschheit wie ein Klotz am Bein hängen.
Melanie, ein Au-pair-Mädchen, flüchtet aus unmöglicher Liebe zum Vater des ihr anvertrauten Kindes in die Arme der frustriert-kapriziösen Angela, die krampfhaft eine Freundin sucht, aber vor deren Ansprüchen und Freundschaftsbeweisen alle bisher von den Eltern herbeigeschafften Kandidatinnen versagt haben. Auch Melanie muß sich unversehens einem Prüfungsritual unterziehen, kann unter Angelas Regime nicht mehr leben, wie sie will. „Zwischen dem einen und dem anderen Kleid darfst du noch wählen“, hält ihr Angela zynisch entgegen, „aber nicht mehr zwischen Scham und Schamlosigkeit.“ Und schon wird sie ins Nachthaus geführt, in dem die deformierten Erscheinungen der westlichen Kultur, die „unzähligen Menschen den Kopf verdreht“ und „ihnen ein höheres Dasein vorgegaukelt“ haben, nun selbst sehen müssen, „wie häßlich das wirkliche Leben ist“.
In Käfigen sitzen Berühmtheiten aus Literatur und Film, die Angelas Vater, ein High-Tech-Frankenstein, mit „feinsten Lichtskalpellen“ aus den Werken herausgelöst, auf „menschliche Zellkulturen angepflanzt“ und so „biotisiert“ hat. Da ist die „Überlebende eines weltbekannten Kinostreifens“, deren „winzige Schweißperlen in ihrem Oberlippenflaum“ noch „aus einer Liebesszene [stammen], in der sie bis zum äußersten Verstummen ihren Körper genoß“, Schweißperlen, die Angelas Vater „aus einer verschlissenen Schwarzweißkopie herüber in das Alltagsgrau der Anwesenheit“ holte.
Da vegetiert, längst dem Irrsinn verfallen und entsetzlich entartet, Alice aus dem Wunderland in ihrem verwahrlosten Verlies. Über ihr Gesicht zucken die „Hauptlaster des Jahrhunderts“: Die „Fratze der Psychologie, das gehetzte Lächeln des Profits, der Geifer des politischen Fanatismus, die Ausdrucksleere der Maschine“.
In diesem Horrorkabinett beginnt Melanies Reise, die Regisseur Haußmann zu einem opulenten, nicht enden wollenden Bilderreigen gerät. Seinem Drang, die Texte szenisch weiterzudichten, hat er auch diesmal nicht widerstehen können. Hin- und hergerissen von seiner offensichtlichen Haßliebe zur Straußschen Sprache, die er einerseits ob ihrer Mundgerechtheit für die Schauspieler bewundert, deren bühnenwirksamer Kraft er dann aber doch mißtraut, hat er tief in der unerschöpflichen Phantasiekiste gewühlt und das Stück ungestüm mit grellen Regieeinfällen überhäuft. Den Spaß am Inszenieren hat er sich jedenfalls nicht verderben lassen.
Doch Haußmanns Verliebtheit in kleine szenische Bildergeschichten ist wohl ein Stück weit auch eine Flucht vor der gedanklichen Durchdringung des Dramas, eine Kapitulation vor den überbordenden Querbezügen (von der Gnosis bis zu Bunuel), der schwindelerregenden Vielschichtigkeit der Straußschen Texte, dieser literarischen Spiegelkabinette, in welchen man sich nur allzu leicht verliert.
Wo die Bilder sich wirklich am Text entzünden und in der Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Bühnentechnik entstehen, dort sind sie effektvoll, ohne im bloßen Gag zu erstarren, nur ein optischer Sinnenkitzel zu bleiben. Die wahrhaftige Geisterbahn, in die sich die Grazer Drehbühne verwandelt, wenn Angela und Melanie das „Nachthaus“ betreten, in der Melanie in der Lore durch das Pandämonium der Straußschen Lemuren rast, ist einer jener glücklichen Einfälle, die den Gattungswechsel von Literatur zum Theater als im Text zwingend angelegt erscheinen lassen. Dieses Bild erhellt am Ende des ersten Teils wie ein Blitzstrahl diese surreale Reise durch die mythisch-atavistischen Abgründe der Straußschen Menschheit. Eine Geisterbahn. Welch kongeniales Bild: Es nimmt die mythische Unschärfe und verschleierten Doppeldeutigkeiten des Textes auf, indem es den Inhalt illustriert, und tritt zugleich in ironische Distanz zu ihm. Doch das erhellende Blitzlicht wird im zweiten Teil, in dem Strauß in einem verfallenen Bühnenhaus einmal mehr eine Theatermetapher bemüht, zum nicht enden wollenden Wetterleuchten.
Zur Auflockerung besinnt sich Haußmann schließlich wieder seiner Special effects: Ganz langsam, mit theatralischem Gestus, läßt er etwa den Vorhang zum letzten Bild aufziehen, in der nicht enttäuschten Hoffnung, daß der passende Trommelwirbel und Tusch vom applaudierenden Publikum spontan beigesteuert wird: eine Strandszene wie aus einem Comic. Ein Hintergrundprospekt mit Dämmerungsstimmung, grellgelbe Sandhügel und Attrappen, einige Strandkabinen. Der Aufseher in Badehose, mit ölig glänzendem Körper zwischen Fettleibigkeit und Bodybuilding-Statur, stellt sich vor Melanie im Abendkleid in Pose. Eine Allerweltskarikatur, die schließlich auch noch eine Slapsticknummer absolvieren muß, um an Hose und Sakko zu gelangen, worauf sich Melanie niedergelassen hat. Eines der vielen Haußmannschen Szenenexperimente, die im Text kaum begründet liegen, an denen der Zuschauer sich spontan erfreuen soll.
Des Jungregisseurs entwaffnende Ehrlichkeit und Naivität stehen im krassen Gegensatz zum Bildungs- und Bedeutungsgewicht, das das Stück mit sich schleppt. Haußmann zelebriert den szenischen Dienst an der Straußschen Kunst und befreit sie zugleich von ihrer theophanen Bedeutungsschwere, indem er sie ins Märchenhaft-Komische übersetzt. Sie unterscheidet sich auch radikal vom Ernst der approbierten Strauß- Regisseure Stein, Bondy und Dorn, denen jede Uraufführung zur Modellinszenierung gerät, die drückend schwer auf allen folgenden lastet. Von solcher Bürde weiß Haußmann nichts oder schiebt sie zumindest — nicht ohne Koketterie — beiseite. Seine Inszenierung, meinte er in einem Interview, sei bloß „ein ganz kleines und schnell vergessenes Teilchen im Makrokosmos der künftigen Aufführungsgeschichte“.
Botho Strauß: Angelas Kleider. Regie: Leander Haußmann, Bühne: Bernhard Kleber, Produktion: „Steirischer Herbst“ und Schauspielhaus Graz. Mit Anja Klein, Sabine Werner, Andreas Sindermann, Götz Argus. Nächste Aufführungen: 9. u. 19.10.
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