: Geiselnahmen: Von Gladbeck nach Celle
■ Celler Knastausbruch weckt Erinnerungen an Gladbeck/ Geiseln frei, Täter gefaßt
Hannover/Düsseldorf (taz) — Der niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski (SPD) kann sich entspannt zurücklehnen. Geiselnahme und Flucht von vier Schwerstverbrechern in Celle, das war der Stoff, der für eine Kampagne gegen die vermeintlich schlappe rot- grüne Sicherheitspolitik in Hannover einiges versprach. Die politische Verwertung der Gladbecker Geisel-Affäre vor Augen, bestand für die Hannoveraner Politiker durchaus Grund zur Nervosität.
Doch gestern wendete sich das Blatt. Zunächst tauchte in den frühen Morgenstunden die dritte Geisel, der Justizangestellte Harley Radatus, unverletzt in der sächsischen Gemeinde Neudorf im Erzgebirge auf. Hier, 10 km von der deutsch-tschechoslowakischen Grenze, war er nach Angaben der Polizei von den Gangstern in der Nacht zum Mittwoch gefesselt ausgesetzt worden. Von den vier Geiselnehmern, zwei Deutsche, ein Jugoslawe und ein Libanese, fehlte zu diesem Zeitpunkt noch jede Spur. Die erlösende Eilmeldung der Nachrichtenagenturen kam kurz nach 14 Uhr: „Alle vier Celler Geiselgangster in Karlsruhe festgenommen.“ Beim Schußwechsel mit der Polizei wurden zwei von ihnen verletzt. Glaubt man den ersten Berichten aus Karlsruhe, dann beruht der Erfolg auf dem Hinweis eines türkischen Mitbürgers, der die vier Geiselnehmer um 11 Uhr 57 in einem Karlsruher Parkhaus entdeckte. Ein mobiles Einsatzkommando konnte wenig später zwei von ihnen festnehmen, den beiden anderen gelang die Flucht. Nach Darstellung der Polizei nahmen sie erneut eine Geisel. An einer Autobahnausfahrt stellte die Polizei das Duo. Es kam zu einem Schußwechsel, bei dem die zwei Gangster verletzt wurden. Die Geisel blieb offenbar unversehrt.
Das glückliche Ende scheint die in Celle eingeschlagene Polizeistrategie eindrucksvoll zu bestätigen. Den Tätern in der Hoffnung auf die Freilassung der Geiseln zunächst freies Geleit zu gewähren, um sie dann anschließend zu fassen, nach diesem Muster hatte auch die nordrhein-westfälische Polizei am 16.8.1988 zunächst auf die Gladbecker Geiselaffäre reagiert — mit katastrophalem Ausgang. Zwei Geiseln, der italienische 15jährige Junge Emmanuele de Giorgi und die 18jährige Silke Bischoff wurden im Verlauf des Dramas, das durch eine polizeiliche Rambo-Aktion auf der Autobahn endete, erschossen. Ein grausames Ende, das die Düsseldorfer CDU der vermeintlich „weichen Linie“ von Innenminister Schnoor zuschrieb. Wegen dieser NRW-Linie sei ein früher, erfolgversprechenderer Zugriff am Tatort — unter Einsatz des gezielten Todesschusses — nur halbherzig geplant worden.
Blickt man nach Celle, dann scheint das Gladbecker polizeiliche Fahndungsmuster dagegen bestätigt worden zu sein. Nicht die Stragegie war demnach falsch, sondern die Durchführung mangelhaft. Tatsächlich hatten zahlreiche Fehler bei der Observation dazu geführt, daß die Gladbecker Geiselnehmer wußten, daß das versprochene freie Geleit nichts als eine Finte war. Der Gipfel der Polizeipannen war dann in Bremen die irrsinnige Festnahme der weiblichen Geiselnehmerin, die unmittelbar zur Ermordung der ersten Geisel führte.
Von diesem Drama haben Polizei und Gangster offenbar gelernt. Die Gangster, indem sie durch ihre Erklärungen und Handlungen eindeutig und eindringlich klar machten, daß schon beim geringsten Hinweis auf einen Zugriff die Tötung der Geiseln die unmittelbare Folge sein würde. Eine Drohung, die die Polizei ernst nehmen mußte — und ernst nahm. Ob die Verfolger sich auch an den verabredeten Verzicht auf Observation hielten, steht dahin. Aufgefallen sind sie den Geiselgangstern jedenfalls nicht. Aus deren Sicht war die Freilassung danach nur konsequent. Die Polizeistrategie ging auf. Wären bis zur erneuten Festnahme unbeteiligte Menschen zu Schaden gekommen, die Bewertung der Aktion fiele gewiß kritischer aus. Dennoch, der freie Abzug verspricht im Falle von Geiselnahmen eher Erfolg als Rambo-Aktionen und „finale Rettungsschüsse“ — ohne Risiko ist diese Strategie freilich auch nicht. Walter Jakobs
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