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AMERIKA, ANDERS ALS ERWARTET

■ Mit "c" möchte ich dich schreiben, behutsam, das forsche "k" vermeidend. Amrica

Mit „c“ möchte ich dich schreiben, behutsam, das forsche „k“ vermeidend. America.

VONIRMGARDSOLLINGER

Ohnehin ist falsch, was ich da schreibe. Ich war nicht in Amerika. Ich habe New York gesehen und bin mit der Bahn in das 200 Kilometer entfernte Albany, Hauptstadt des Staates New York, gefahren. Und ich war in der Schule von Oceanside, einem kleinen Ort auf Long Island.

Trotzdem möchte ich den Titel so stehen lassen. Denn diese Reise, erste Reise nach Amerika, veränderte mein Denken. Dort in New York und ein zweites Mal hier bei der Rückkehr in München. Doppelt anders. Doppeltes Erstaunen. Das Erkennen ist vielfältig. Dort ungläubig oder enttäuscht, erleichtert oder erfreut oder mißmutig, hier bei der Rückkehr ist es nur eines: gewaltvoll.

Ankunft auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen. Abfertigungshalle. Erinnerung an den Bahnhof Friedrichstraße in Ostberlin. Mit dem Taxi fahren wir vom Flughafen nach Brooklyns Westen zu unserem Quartier. Mir scheint, was ich draußen sehe, DDR und Dritte Welt in einem zu sein. Von der DDR die baufälligen Häuser, von der Türkei und Afrika das lebhafte Straßenbild. Auch London geht mir durch den Kopf. Läden, eng und klein aneinandergereiht auf der Straßenebene, davor sitzen die Besitzer. Elende Auslagen. Viel Neonlicht. Die Graphik der Feuerleitern an den Fassaden begeistert mich.

Eine Straße weiter ändert sich das Bild. Englische Architektur, kleine Häuser, kleine Treppen mit Säulen am Eingang. Ein Viertel unter Denkmalschutz. Ein gutes Angebot, Bed & Breakfast für 25 Dollar. Die Vermieterin kommt aus Frankfurt. Wir sind ihre ersten Gäste. Sie ist eine von den jungen Leuten, die sich hier durchschlagen. Studium, Promotion, Theaterwissenschaft, arbeitslos in der BRD, arbeitslos in New York. Jetzt hat sie ein Stück geschrieben und geht tagsüber putzen.

Wir besuchen eine Schule in Long Island. Die Lehrkräfte diskutieren die Nachricht des Tages, eine drastische Budgetkürzung im Bildungsbereich. Sie wissen, der gestrige Regierungsbeschluß wird tief in das Leben einiger von ihnen eingreifen. Sie werden die Arbeit verlieren. Kündigungen sind jederzeit möglich, auf jedem Arbeitsplatz. Dafür sind Zeugnisse und Alter bei der Einstellung nicht so wichtig. Du hast die Chance. Hire and fire. Sozialleistungen im Krankheitsfall? Für etwa 16 Krankheitstage pro Jahr erhält man weiterhin Lohn. Dann Verdienstausfall. Die Krankenversicherung trägt 24 Tage Krankenhausaufenthalt pro Jahr. Was darüber hinausgeht, müssen die Patienten selber zahlen. Gibt es Versicherungen für solche Fälle? Ja, aber teuer. Ein Lehrer erzählt, er habe jetzt die Krankentage aus vier Jahren aufgespart, man könne ja nie wissen.

Mich wundert der Gleichmut, mit dem so Unerhörtes berichtet wird. Niemand will waonders leben. Amerika, bestes Land. Der Überlebenskampf als Denktradition. „Survival of the fittest“, das höre ich oft. Es wird mit Überzeugung gesagt. Stadt der gnadenlosen Kalkulation. Stadt, wo in den Self-Service-Lokalen Manhattans zur Mittagszeit die Beleger der Sandwichbrote mit maschineller Geschwindigkeit und Präzision arbeiten, oft für zwei oder drei Gäste gleichzeitig.

Sonntag in New York. Fast alles ist geschlossen. Endlich haben wir ein Café entdeckt. Ein freundlicher Mann steht hinter der Theke. Zweimal Kaffe bitte. Der Kaffee kommt im Pappbecher, Deckel drauf, Zuckerbeutel, Löffelchen dazu, alles in die Papiertüte, bezahlen und dann hinaus mit euch. Kein Platz zum Sitzen. Die Ladentür spuckt uns wieder aus. Seht zu, wo ihr den Kaffe trinkt. Nicht, daß das gesagt würde — der Mann ist freundlich. Es ist eben so.

Und wochentags? Menschen drängen in der Mittagspause in Fast- Food-Läden, „Delis“, abgekürzt für „Delikatessen“. Schmackhafte Speisen aus den Küchen der Einwanderer, koscher oder islamisch, Salate, Beilagen in Selbstbedienung zum Einheitspreis. Man füllt eine warmhaltende Styroporschale mit Deckel. Zigaretten, Kaffee, Nachtisch, alles Käufliche kann man haben. Und dann? Entweder ein Eßbereich im Hintergrund ds Verkaufsraums mit einfachsten Tischen und Stühlen, künstlich beleuchtet und belüftet, oder hinaus auf die Straße. Dort: Bänke auf kleinen Grünflächen mit Bäumen oder die Eingangshallen mancher Bürogebäude, die deswegen der Öffentlichkeit zugänglich sind, weil dafür Bauzuschüsse vergeben werden. Bei heißem Wetter scheint mir die Pause im Freien angenehm. Was ist im Winter? Zurück ins Büro? Kantinen, selbstverständliche Sozialleistung, wo sind die?

Nach Harlem sollen wir nicht gehen. Selbst enge Freunde haben abgewinkt. Aber die Vermieterin bestärkt uns. Sie hat lange Zeit in der Bronx gewohnt. Wenn wir uns höflich benähmen und sonntäglich gekleidet seien, würde man uns auch im Gottesdienst nicht als zudringlich empfinden. Die Statistik der Gewalt im Kopf — unter schwarzen Männern in New York beträgt die Lebenserwartung 46 Jahre, Mord ist die häufigste Todesursache — tauchen wir gegen 11 Uhr auf der Harlemer Hauptstraße aus der U-Bahn auf. Die Straße ist breit und ziemlich leer, die Geschäfte geschlossen, einige Straßenhändler arbeiten. Ein Bus aus einem der touristischen Rundfahrt- Programme hat gehalten, und die aussteigenden Menschen, die einzigen weißen Menschen, die ich weit und breit sehe, lassen sich mit den Straßenhändlern fotografieren. Ich bin froh, daß ich mich über diese Möglichkeit, nach Harlem zu kommen, hinausgewagt habe. Wir suchen eine Kirche. Nachdem wir eine Weile nach rechts gegangen sind, versuchen wir die umgekehrte Richtung und fühlen uns langsam nicht mehr so unsicher ungewiß.

Die Statistik der Gewalt im Kopf

Wir stoßen auf einen unauffälligen Kircheneingang. Der Gottesdienst ist schon fortgeschritten. Ein Geistlicher predigt. Er spricht immer lauter, bewegt sich bis zur Mitte des Kirchenraums. Ein niedriges Podest steht ihm dafür zur Verfügung. Allmählich steigert sich seine Rede, geht ins Singen über. Die Frau an der Orgel reagiert genau, setzt passende Akkorde in die Redepausen, Musik und Botschaft werden eins. Die Gemeinde bekräftigt die Sentenzen des Predigers. Je länger wir bleiben, desto mehr schwindet das Gefühl der Neugier.

Mein Zwiespalt ist der einer weißen Frau, die weiße Überheblichkeit nicht fortsetzen will, die trotzdem mit eigenen Augen sehen möchte, was die anderen machen, auch ihre Frömmigkeit, und die genau deswegen das Unbehagen hat, daß sie doch faktisch schon zur Voyeurin geworden ist. Allmählich stellt sich ein ruhigeres und einfacheres Gefühl ein. Auf der Basis der Religion kann ich an dem Gottesdienst teilnehmen. Meine Hautfarbe schließt mich nicht aus. Wir bleiben sehr lange. Ich erkenne einen anderen Zugang zu Spiritualität. Die Seele badet und erhält Kraft für den Alltag draußen.

Nun ist Harlem nicht mehr unbekannt. Ich bemerke Doppeltes: In meiner Vorstellung ist es irgendwie „kleiner“ geworden. Schade. Kein Mythos mehr. Nicht mehr so fazinierend. Nicht mehr so verlockend, so besorgniserregend, so großartig. Nicht mehr mit so vielen Projektionen behaftet. Nicht mehr so sehr „das andere“. Dafür ist es mir näher gekommen. Einschätzbarer. Die Gewalttätigkeit der Realität ist dadurch nicht geringer. Aber in meiner Vorstellung hat sie die Dimension der sonntäglichen, sonnenbeschienenen behäbigen Hauptstraße und des alten Mannes, der uns half, den richtigen Bus zurück zu nehmen, hinzugewonnen. Aus der Frage, ob ich mich in Harlem bewegen kann, wurde die Frage des „Wo“ und „Wie“.

In der folgenden Zeit erzähle ich viel von meinem Besuch und erlebe, am meisten von Menschen, die seit vielen Jahren in New York leben, als stereotype Reaktion stets ungläubige Abwehr. Warum macht man sich nicht öfter auf, selber zu sehen, setzt sich der Gefährdung einer unbekannten Situation aus, die der Eintrittspreis in gewußtes Wissen ist?

Wir fahren kurz vor Mitternacht mit der noch vollen U-Bahn zurück nach Brooklyn. Ich sehe links von mir einen sehr dünnen schwarzen Mann sitzen, die Augen geschlossen, mittelgroß. Er hat die Beine übereinandergeschlagen. Er ist so dünn, daß seine Füße nebeneinander auf dem Boden zu stehen kommen.Sehr ordentlich, wie sie da stehen. Außenkante neben Außenkante, der linke Fuß steht rechts, der rechte links. Linker Fuß, rechter Fuß. Ich kann meinen Blick nicht davon lösen.Es sieht bizarr aus. Es ist Armut.

Bin ich rassistisch, wenn ich zögere, am Abend an herumstehenden, schwarzen Männern vorbeizugehen? Würde ich mich nicht fürchten, wenn sie weiß wären? Wenn ich daheim wäre? Schwarz ist nicht gleich gut, und weiß ist nicht gleich gut, und Sexismus und Kriminalität liegen quer. Außer der Weißen bin ich auch Frau, bin ich auch unwissende Touristin, bin ich auch eine an Ghettokonflikten Unbeteiligte, bin ich auch eine ihr mittleres Portemonnaie Festhaltende, bin ich auch Freischärlerin gleicher Lebenschancen.

Völlig verblüfft es mich, daß mich Menschen, schwarze Menschen, in Brooklyn auf der Straße grüßen. Freundliche Grüße sind es, die ich nicht umdeuten muß. Ich kann sie freundlich erwidern, auch ohne ihren genauen Grund zu kennen. Auf der Hauptstraße beim Botanischen Garten entdecke ich einen Buchladen, der ausschließlich schwarze Literatur führt, eine Schatzkammer, nachdem ich mich über die mich in schwarzen Gebieten stets begleitende Befürchtung, unerwünscht zu sein, hinwegggesetzt habe. Der Woodoo-Händler nebenan führt uns neugierige Besucher in zwei kultische Zimmer, in denen viele Kerzen brennen. Die Gefühle sind diffus. Fremde Umgebung, ich bewege mich auf unsicherem Boden. Ich kann Verhalten und Kontext nicht genau einordnen. Meine Interpretationen haben daher mehr mit mir, meinen Gefühlen, Befürchtungen, Idealen zu tun, als zu Hause, und wahrscheinlich auch mehr damit, als mit der Wirklichkeit. Auch wenn ich nicht genau weiß, warum der Woodoo-Händler uns die beiden sakral wirkenden Zimmer zeigt, kann ich doch davon ausgehen, daß er weiß, was er tut. Und ich kann nicht genug kriegen vom Sehen. Als wir gehen, schüttet er uns Sesamkörner auf die Hand. Sollen sie Glück bringen? Sind wir verflucht?

Ich bewege mich auf unsicherem Boden

Vom Lokal aus mit den garantiert billigsten und größten Steaks, das der Stadtführer im Kapitel Gastronomie empfohlen hat, beobachte ich eine Gruppe Menschen auf der anderen Seite des Times Square, wo ein unermüdlicher Redner tätig ist. Wir gehen hinüber. Es sind schwarze Männer, die einfach geschnittene, edel wirkende Gewänder aus einer historischen Epoche tragen. Silberne Sterne. Neugierig stellen wir uns dazu. Ich versuche herauszufinden, worum es geht. Um Geschichte, Identität, Kraft schwarzer Menschen. Da bin ich dafür und möchte mehr verstehen. Plötzlich beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Der Redner spricht doch uns an. Seine Rede sei für Weiße zu schade. Ich schaue mich um, schaue wieder ihn an, er spricht unverwandt in unsere Richtung. „Wir werden sie vernichten, und du“, sagt er zu meinem Begleiter, „bist einer von ihnen.“ Die Männer erscheinen mir als geschlossene Gruppe. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich meiner Hautfarbe wegen bedroht. Ich bin gleichzeitig wütend und tief erschrocken. Ich ahne, was ich weiß: Der Rassismus, dessen mögliche willkürliche Gewalt ich in diesem Moment spüre, ist für viele schwarze Menschen existentieller Alltag. Ich bin den „Twelve Tribes of Juda“, einer Organisation militanter Afro- Amerikaner begegnet.

Als ich nach Albany fahre, bin ich nach einer knappen halben Stunde Bahnfahrt im Grünen. Einsamkeit. Fast Wildnis. Rostende, brechende Eisenkonstruktionen. Verfallende Anlegestellen. Amerika, berstendes Zeugnis einer aufstrebenden Stahlzeit. Der Flußlauf rührt das deutsche Herz an. Wer hätte das vermutet? Die 16 Millionen Menschen, wo leben die? Weite Wohnviertel sind nur drei- bis viergeschossig bebaut.

Ich bin erstaunt, daß New York menschlich ist. Meine Vermieterin stöhnt auf. Menschlich sei das Leben hier gerade nicht, nein, unmenschlich, hart. Für mich ist auch Abfall menschlich. Ich kann mich kaum verständlich machen. Was habe ich erwartet? Glattes, perfektes Funtionieren, glaube ich.

Nach einer Woche fliege ich heim. Eine übervolle Woche. Ich weiß jetzt weniger über Amerika, als ich vorher zu wissen glaubte. Und doch auch wieder mehr.

Amerika, anders als erwartet. Und, doppelter Bruch, Europa anders als erwartet. Als Europäerin ging ich hin, war ich dort, kam ich zurück. Europäische Kultur, europäische Geschichte und Tradition, europäisches Sozialsystem, europäisches Selbstbewußtsein.

Und dann das Erlebnis der Rückkehr in München. Ja, sauber war es. Aber war das alles? War das mein Europa?

Der Bahnbhof ist grau, auch die Menschen sind es, warum sind die Gesichter heute so verbissen? Der Busfahrer war mürrisch. Er hat zwei Afrikanern die Tür vor der Nase zugeschlagen. Ach Bayern. Zu allem Überfluß zieht eine Gruppe gerade angekommener Aussiedler durch den Bahnhof, lauter Zukunft in den Augen, voran ein Mann, der mit der Ziehharmonika den Jungen Wandersmann spielt. Meine Hand, die in der Manteltasche gräbt, findet die Sesamkörner, die mir der Woodoo- Händler in Brooklyn gegeben hat. Ich werfe sie hoch und weine. Plötzlich verstehe ich, warum Leute dort in New York leben wollen, ohne Arbeit, Geld, Sicherheit.

Münchens Gediegenheit, städtische Wohnviertel, durch die der Flughafenzubringerbus fährt, deutsche Normalität, das war plötzlich so entzaubert. Nur tot. Nur kleinlich. Schäbig. So ist das. Ich, als Nachkriegskind an die Botschaft Amerikas glaubend, dann Amerika hassend, dann anerkennend, aber gering achtend, überzeugte Europäerin hier und dort, plötzlich mit Augen, denen New York dazwischengekommen ist, nicht mehr so trotzig.

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